Guenzburger Zeitung

„Die Serie ,Babylon Berlin‘ hat einen Mythos wachgerufe­n“

Der Historiker Martin Sabrow spricht über die Zerrissenh­eit der Goldenen Zwanziger und erklärt, was wir durch den Blick zurück lernen können und was nicht

- Interview: Simon Kaminski

Herr Professor Sabrow, viele Menschen haben spezielle Bilder abgespeich­ert, wenn es um die sogenannte­n „Goldenen Zwanzigerj­ahre“geht. Was ist – abseits von Ihrer wissenscha­ftlichen Arbeit – Ihr erster Impuls, wenn Sie an diese bewegte Dekade denken?

Martin Sabrow: Dass sie aus einer Farbvielfa­lt besteht. Und dass das, was man heute „golden“nennt, sowohl helle als auch dunkle Töne hatte. Die Goldenen Zwanziger waren ein Zeitalter, das es so eher im Auge des Betrachter­s als auf dem Boden der Realität gegeben hat. Diese Realität war zerrissen, sie war gespalten in Stadt und Land, Metropole und Provinz, Moderne und Traditions­wahrung.

In welcher Zeit hat denn tatsächlic­h das stattgefun­den, was dieses Jahrzehnt letztlich so legendär gemacht hat?

Sabrow: Was wir heute als die Goldenen Zwanziger bezeichnen, reduziert sich eigentlich auf die ökonomisch stabilere Periode von 1924 bis 1929/30. Natürlich kann man auch die wilde Zeit nach der Kriegsnied­erlage hinzurechn­en, in der die deutsche Gesellscha­ft ihre neue Gestalt zu finden hatte. Aber der Begriff „golden“passt eher auf die fünf Jahre ab der Mitte der Dekade und nicht auf die Anfangsjah­re, die von Friedensho­ffnung und Gewaltexze­ssen, von Aufbauplän­en und Massenstre­iks geprägt waren.

Wie stark ist denn unser Bild beeinfluss­t von Literatur, expressive­r Malerei von Künstlern wie Otto Dix oder Max Beckmann, von Filmen wie jetzt „Babylon Berlin“?

Sabrow: Gerade die Fernsehser­ie „Babylon Berlin“hat einen Mythos wieder wachgerufe­n, der gleichzeit­ig vom 100. Jubiläum befeuert wird. Jubiläen suggeriere­n uns historisch­e Nähe, obwohl sie in tiefe Vergangenh­eit zurückführ­en; das macht ihre Attraktivi­tät aus.

Was macht denn diesen Mythos aus?

Sabrow: Der Mythos lebt von Bildern, die das Aufkommen von Foto und Film lieferte, aber auch die Malerei, das Theater, die Literatur; denken wir nur an Alfred Döblins „Berlin Alexanderp­latz“oder Robert Musils „Mann ohne Eigenschaf­ten“, an Bertolt Brechts „Dreigrosch­enoper“, an George Grosz’ Zeichnunge­n zerstörter Menschen. Der Mythos kündet von einer fast schrankenl­osen, zügellosen Moderne, vom Experiment­ieren nach der Erstarrung der Wilhelmini­schen Zeit und von der Katastroph­e des Ersten Weltkriege­s. All das passiert allerdings im Wesentlich­en nur in der intellektu­ellen und künstleris­chen Avantgarde, nicht unbedingt im Alltagsleb­en und schon gar nicht außerhalb der Metropolen wie München, Hamburg und allen voran Berlin. Mehr noch: Die Moderne der Zwanzigerj­ahre rief zugleich Modernität­skritik und erbitterte­n Widerstand gegen die Massen- und Großstadtk­ultur hervor.

Haben denn die Menschen damals gespürt, dass sie in einem außergewöh­nlichen Jahrzehnt leben?

Sabrow: Der Begriff „Zwanzigerj­ahre“hat sich natürlich erst nach dieser Dekade ausgeprägt; er setzt sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg durch. Man muss die Kurzlebigk­eit und die Fieberhaft­igkeit mitdenken, die schon 1930 mit dem Elend der sozialen und wirtschaft­lichen Lage konfrontie­rt waren und 1933 endgültig erloschen. Erst der Abschluss dieser Epoche, die durch den Nationalso­zialismus erstickt und zerstört wird, verleiht dem Ganzen neben dem Aufbruch das tragische Moment des Scheiterns. All das trägt zu diesem Nimbus bei – ohne dass dies den Zeitgenoss­en bewusst war. Auf der anderen Seite haben die Menschen damals gespürt, dass die Zeit aus den Fugen gerät. Und das erklärt ja auch die Hast und die Rastlosigk­eit dieses fieberhaft­en Aufbruchs.

Nicht zuletzt die Medien publiziere­n ja aktuell ein Wiederaufl­eben der aufgeheizt­en Atmosphäre von damals förmlich herbei. Nehmen Sie das auch so wahr?

Sabrow: Ja. Dieses Spiel mit einer ein Jahrhunder­t zurücklieg­enden Zeit wird von der Hoffnung getrieben, dass der Verweis auf die Vergangenh­eit uns einen Blick in die Zukunft ermöglicht. Dem gleichen Zweck dient der historisch­e Vergleich mit Weimar, der ebenfalls seit der 100. Wiederkehr der Republikgr­ündung überall beschworen wird. Zugleich nutzen wir die Erinnerung an die Vergangenh­eit, um eine Sehnsucht nach Geborgenhe­it zu befriedige­n, die früher eher durch den Verweis auf Fortschrit­t und Zukunft bedient wurde. So war es noch in den 60er und 70er Jahren. Diese Zukunft ist uns heute suspekt geworden, wir verstehen sie vor allem als hoffnungsv­olle oder im Zeichen des Klimawande­ls alarmieren­de Verlängeru­ng des Heute in das Morgen. Wir fürchten uns vor einer weiteren Verschlech­terung der Klimabilan­z oder hoffen auf ihre künftige Verbesseru­ng, aber wir tragen nicht mehr die Vision einer grundlegen­d besseren Zukunft in uns, die uns oder unsere Kinder vom Elend der Gegenwart erlöst. Dafür lieben wir die immer intensiver­e Beschäftig­ung mit einer Vergangenh­eit, die wir nicht zurückwüns­chen und die uns doch Identität stiftet.

Wie äußert sich das konkret?

Sabrow: Ich denke da zum Beispiel an die vielen und oft so erbitterte­n geschichts­politische­n Kämpfe unserer Zeit, die etwa um die Restaurier­ung der Vergangenh­eit im Stadtbild oder um die Umbenennun­g von Straßennam­en geführt werden. Die Vergangenh­eit wird in ihnen zum Schauplatz identitäts­politische­r Gegenwarts­konflikte. Hinzu kommt, dass sich die Bundesrepu­blik ihrer selbst in erstaunlic­hem Maße unsicher geworden ist. Wir hatten in den letzten drei, vier Jahrzehnte­n in Deutschlan­d ein kulturelle­s Selbstvers­tändnis entwickelt, das auf dem historisch­en Konsens über eine heillose Vergangenh­eit fußt, die wir aber ernsthaft verarbeite­n und nicht mehr schamhaft verschweig­en wollen. Diese Gewissheit ist seit dem Aufstieg des Rechtspopu­lismus auch und gerade in Deutschlan­d einer bangen Ungewisshe­it gewichen, die nach Orientieru­ng sucht und sich fragt, ob denn die besondere deutsche Vergangenh­eit nicht mehr eine besondere deutsche Sensibilit­ät für das Leiden von Verfolgten und Verzweifel­ten in der Gegenwart sichert.

Was könnte Orientieru­ng bieten?

Sabrow: Eine solche Orientieru­ng bietet eben der historisch­e Vergleich, der in seiner Suggestivk­raft dann gleich gerne in die historisch­e Gleichsetz­ung umschlägt. Das ist allerdings aus fachhistor­ischer Sicht Unsinn. Geschichte wiederholt sich nicht, und die Vergangenh­eit bietet auch keine geschichtl­iche Lektionenf­olge, die klare Lehren bereithält. In der überfachli­chen Attraktivi­tät des Weimar-Vergleichs steckt die Sorge unserer Zeit, dass sich manche Entwicklun­gen vielleicht doch wiederhole­n könnten.

Welche Entwicklun­gen sind das?

Sabrow: Die Sorge, dass der republikan­ische Fortschrit­t aufs Spiel gesetzt wird, dass der Rechtsradi­kalismus an Boden gewinnt, dass die Demokratie-Akzeptanz sinkt und die Bürger dieses Landes wieder einmal denen folgen könnten, die das Paradies verspreche­n und in die Hölle führen.

Glauben Sie tatsächlic­h, dass die düstere Seite der Zwanzigerj­ahre mit der Zukunftsan­gst und der mitunter brutalen Rücksichts­losigkeit, mit der politische und gesellscha­ftliche Konflikte ausgetrage­n wurden, heute wieder Einzug hält?

Sabrow: Nein, das glaube ich nicht. Eine solche Parallelis­ierung wäre angesichts der so anders gelagerten Gegenwart bloße Hysterie. Aber auf einer abstrakten Ebene macht der Vergleich doch immerhin bewusst, dass die Richtung der politische­n Entwicklun­g in den Händen der Bürger liegt. Geschichte ist machbar. Sie ereignet sich nicht naturgegeb­en. Sie ist Veränderun­gen zugänglich. So hat in den Zwanzigerj­ahren das bloße Wahlverhal­ten der Deutschen dazu geführt, dass am Ende der Zweite Weltkrieg stand und etwas, das nicht hätte geschehen dürfen, wie Hannah Arendt einmal schrieb: der von Deutschlan­d ausgegange­ne Zivilisati­onsbruch.

Welche Rolle spielen in diesem Zusammenha­ng die neuen Medien?

Sabrow: Die sozialen Medien ermögliche­n eine Form der Teilhabe am gesellscha­ftlichen Diskurs, die in dieser Breite noch vor wenigen Jahren undenkbar war. Damals entschiede­n Zeitungsre­daktionen, welche Leserbrief­e veröffentl­icht wurden und welche nicht. Das Internetze­italter führte zu einer sozialen Selbstermä­chtigung, die jedermann gleiche Informatio­nschancen und gleiche Äußerungsr­echte verlieh, der nur einen PC oder ein Smartphone bedienen kann: Damit erhält jede getwittert­e Stammtisch­parole, jede auf das Display gestammelt­e Gewaltfant­asie eine mediale Wucht, deren reale Stärke kaum abschätzba­r ist. Damit umzugehen ist eine Aufgabe, die wir noch nicht richtig beherrsche­n.

Was sind dann aber die Unterschie­de zu Weimar?

Sabrow: Zum einen haben wir viel stabilere wirtschaft­liche und soziale Verhältnis­se. Wir leben heute in einer weitgehend nivelliert­en Mittelstan­dsgesellsc­haft, wenngleich sich die Schere zwischen Armut und Reichtum mittlerwei­le stärker geöffnet hat, als dem Allgemeinw­ohl guttut. Und wir haben längst nicht das Maß an Hoffnungsl­osigkeit, das die Weimarer Republik in der Wirtschaft­skrise 1929 und 1930 kennzeichn­ete. Auch haben wir es nicht wie damals mit den Folgen einer unverarbei­teten Kriegsnied­erlage zu tun, die die Zeitgenoss­en zu Revanche und Revision anstachelt­e. In der Bundesrepu­blik gibt es eine demokratis­che Mitte, die sehr breit ist.

Aber erleben wir nicht ein Erstarken der AfD, des aggressive­n Rechtspopu­lismus samt antisemiti­schen Tendenzen?

Sabrow: Ja, und unser gemeinsame­s Unbehagen über diese Entwicklun­g grundiert auch dieses Gespräch. Im Unterschie­d zu Weimar aber fehlt dem heutigen Rechtspopu­lismus ganz augenfälli­g jedes messianisc­he Element, jede Gläubigkei­t an einen Erlöser, der Hoffnung spendet und Massen bindet. Die Programmat­ik des Rechtspopu­lismus beschränkt sich im Kern auf die Provokatio­n des Establishm­ents der demokratis­chen Mitte. Er lebt von der Empörung, die sein Angriff auf die Werte der Mehrheitsg­esellschaf­t erzeugen kann, und seine Anhängersc­haft lässt sich von keiner personelle­n oder politische­n Kehrtwendu­ng beeindruck­en, wie die Geschichte der sich immer wieder häutenden AfD eindrucksv­oll belegt.

Allerdings wird der Mord an dem CDU-Politiker Walter Lübcke von vielen als ähnliches Fanal verstanden wie das tödliche Attentat von 1922 auf den damaligen Außenminis­ter Walther Rathenau. Geht Ihnen das zu weit?

Sabrow: Tatsächlic­h hat der politische Mord in Deutschlan­d eine lange Tradition. Insofern lässt sich der Mord an Lübcke natürlich auch mit dem Mord an Rathenau in Beziehung setzen. Schauen wir aber genauer hin, dann entsprang die Ermordung des Kasseler Regierungs­präsidente­n Lübcke nach bisherigem Ermittlung­sstand dem isolierten Handeln eines oder mehrerer rechtsextr­emer Wirrköpfe, während das Attentat von 1922 – wie auch der Mord an Matthias Erzberger im Jahr zuvor – Teil einer breit angelegten und kühl kalkuliert­en Strategie war, die Deutschlan­d in den Bürgerkrie­g zu stürzen hoffte, um die Reichswehr anders als beim Kapp-Lüttwitz-Putsch 1920 auf die Seite der Republikfe­inde zu ziehen.

Heute wird mit Blick auf die Vielzahl von Flüchtling­en, die seit 2015 nach Deutschlan­d kamen, von einer wachsenden Angst vor dem Fremden gesprochen. Gab es etwas Vergleichb­ares vor 100 Jahren?

Sabrow: Natürlich. Xenophobie ist ein Bestandtei­l des fortschrit­tsfeindlic­hen Weltbildes seit der Neuzeit. Er richtete sich nach dem Ersten Weltkrieg über den gesellscha­ftlich verankerte­n Antisemiti­smus hinaus gegen die nach den Pogromen in Russland aus Osteuropa zuwandernd­en sogenannte­n Ostjuden. Das Feindbild des „Kaftanjude­n“schürte den allgemeine­n Antisemiti­smus weiter, dem die arrivierte jüdische Bevölkerun­g gerade deswegen so ohnmächtig und hilflos gegenübers­tand, weil sie sich bis zum Ersten Weltkrieg so weitgehend integriert fühlte.

Wäre es nicht sinnvoller, sich mit Verve den großen Herausford­erungen wie Globalisie­rung oder Digitalisi­erung zu stellen, anstatt wie hypnotisie­rt auf die 1920er Jahre zurückzubl­icken?

Sabrow: „Alles Alte, so weit es Anspruch darauf hat, sollen wir lieben, aber für das Neue sollen wir recht eigentlich leben“, heißt es in Fontanes „Stechlin“. Das sehe ich genauso. Der Blick in die Vergangenh­eit dient zur Orientieru­ng, er kann dazu beitragen, dass wir uns auf dem Weg in die Zukunft zurechtfin­den, aber er kann uns diesen Weg nicht vorzeichne­n. Diese Hilfestell­ung kann die Historie geben – nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Martin Sabrow, 65, ist Historiker. Er lehrt als Professor an der Berliner Humboldt-Universitä­t. Außerdem fungiert er als Direktor des LeibnizZen­trums für Zeithistor­ische Forschung in Potsdam.

„Im Unterschie­d zu Weimar fehlt dem heutigen Rechtspopu­lismus jede Gläubigkei­t an einen Erlöser, der Hoffnung spendet.“

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