Solidarität als Grundprinzip
„Es sind Jahreszahlen, die sich scheinbar auf erstaunliche Weise gleichen: Im Jahr 1720 die Pest, 1820 die Cholera, 1920 die Spanische Grippe – und nun 2020 das Coronavirus. Wird die Welt alle 100 Jahre von einer Pandemie heimgesucht?“ Während der Hochpha
Der Abstand der Infektionen entspricht nur ungefähr 100 Jahren. Zudem ist die Auswahl willkürlich. Andere Seuchen fallen unter den Tisch, um den Anschein eines 100-Jahre-Rhythmus zu erwecken.
Der Medizinhistoriker KarlHeinz Leven ist daher angesichts der 100-Jahre-Theorie skeptisch. „Zwischen den Pandemien traten noch viele weitere Epidemien auf, die hier unterschlagen werden“, sagt der Professor der Uni Erlangen-Nürnberg. Etwa fehlt die Asiatische Grippe. Auch weitere Pandemien wie Pocken oder Tuberkulose werden nicht genannt. Dass einige Pandemien im Abstand von circa 100 Jahren auftreten, stimme nur auf den ersten Blick, erklärte Leven. Die erste Cholera-Pandemie datiert die Weltgesundheitsorganisation auf 1817 und nicht auf 1820. Die Spanische Grippe verbreitete sich schon ab 1918 und der Ausbruch des Coronavirus begann bereits 2019 in China. Fazit: „Der Ansatz des 100-jährigen Rhythmus ist verfehlt, ungenau und völlig willkürlich. Er erklärt überhaupt nichts.“
Flüchtlinge an der türkisch-griechischen Grenze. Europa hat inzwischen die Migration stark beschränkt.
Augsburg/Luxemburg Die Landstraße nahe der griechischen Kleinstadt Didymoteicho verläuft eng entlang des griechisch-türkischen Grenzflusses Evros. Das Biotop am Fluss ist weltweit für seine Vogelarten bekannt – ruhig fließt das Wasser gen Süden, Vögel zwitschern. Noch vor wenigen Wochen spielte sich hier ein Flüchtlingsdrama ab. Mal wieder. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte seine Grenzen geöffnet, tausende Menschen strömten herbei, versuchten, nach Griechenland und damit in die Europäische Union zu gelangen. Inzwischen ist die Grenze wieder dicht, nur wenige haben es geschafft, den Stacheldraht, die Wasserwerfer, die bewaffneten Offiziere der Grenzschutzagentur Frontex hinter sich zu lassen.
2015 war das anders. Damals setzten knapp eine halbe Million Menschen aus der Türkei nach Griechenland über. Manche Inseln befinden sich bis heute in einer Art Ausnahmezustand. Auch Italien, ein weiterer Mittelmeer-Anrainer, ächzte unter dem Migrationsdruck. Europa wollte in dieser Situation beweisen, dass es in Krisen zusammenstehen kann – und scheiterte kläglich. Zwar rangen sich die EUStaaten in gleich zwei Mehrheitsentscheidungen dazu durch, bis zu 160000 Asylsuchende in den Mitgliedstaaten zu verteilen. Doch drei Länder weigerten sich, dies umzusetzen. Ungarn und Polen nahmen im Rahmen der Beschlüsse keinen einzigen Asylbewerber auf, Tschechien zwölf. Mittlerweile sind die Programme beendet, tatsächlich umgesiedelt wurden nach Angaben der EU-Kommission nur knapp 35000 Menschen. Doch der Europäische Gerichtshof verpasste den drei Ländern jetzt eine schwere juristische Niederlage. Polen, Tschechien und Ungarn haben gegen EURecht verstoßen. Die obersten EURichter stellten klar, dass die Länder nicht pauschal die Aufnahme aller Asylbewerber ablehnen durften. Stattdessen hätte jeder Fall einzeln geprüft müssen. Polen und Ungarn hatten argumentiert, die Umsiedlung gefährde die nationale Sicherheit und öffentliche Ordnung. Auch dem tschechischen Argument, der Mechanismus funktioniere nicht, widersprach der EuGH. Indem ein Land sich jedoch einseitig der Verantwortung entziehe, würden das Ziel der Solidarität sowie die Verbindlichkeit der Beschlüsse unterlaufen.
„Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs stellt klar, dass Solidarität eines der Grundprinzipien in der Europäischen Union ist“, sagt Udo Bullmann, SPD-Europabeauftragter und Mitglied des Europäischen Parlaments, unserer Redaktion. „Leider müssen einige Mitgliedstaaten immer wieder daran erinnert werden.“Er erwarte nun von der Europäischen Kommission, dass sie die entsprechenden Konsequenzen ziehe. „Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen muss die betreffenden Länder dringend wieder auf den Kurs der europäischen Solidarität führen oder die nächsten politischen und juristischen Schritte einleiten“, sagt Bullmann. „Wer in hohem Maße von europäischer Solidarität profitiert, muss sich auch an der Erfüllung gemeinsamer Aufgaben beteiligen.“Auch die Grünen werden deutlich: „Ich erwarte von der polnischen, ungarischen und tschechischen Regierung, dass sie ihre Blockadehaltung gegen eine solidarische Verteilung der Geflüchteten aufgeben und sich endlich an der Aufnahme beteiligen“, sagt Jamila Schäfer, stellvertretende Bundesvorsitzende. Kommissionspräsidentin von der Leyen selbst begrüßte zwar das Urteil – doch zum weiteren Vorgehen der EU-Behörde äußerte sie sich nicht. Denn selbst wenn das Gerichtsurteil eindeutig ist – der Umgang der EU mit Flüchtlingen ist längst nicht geklärt. Die Migrationspolitik bleibt eine der größten Baustellen der Union. Länder wie Italien und Griechenland hadern mit dem Dublin-System, das jene Staaten über Gebühr belastet, in denen die Flüchtlinge zum ersten Mal europäischen Boden betreten. Ungarn, Polen und Tschechien bleiben hingegen bei ihrer Ablehnung, Asylbewerber mithilfe eines Quotensystems zu verteilen – und sie sind längst nicht mehr die Einzigen. Auch Österreich stellt sich gegen einen solchen Schritt.
Nach Ostern will die EU-Kommission einen neuen „Migrationspakt“vorlegen. Eine verpflichtende Quote für alle Staaten dürfte dort keine Rolle mehr spielen. Stattdessen wird es wohl darum gehen, auch andere Formen der Solidarität, etwa Geldzahlungen oder die Lieferung von Hilfsgütern, zuzulassen. Und das möglichst schnell. „Die Zustände in der Flüchtlingslagern an der europäischen Grenze sind zu katastrophal, als dass Europa weiter untätig zusehen kann“, sagt GrünenPolitikerin Jamila Schäfer.
In Polen, Ungarn und Tschechien bleibt man unterdessen gelassen. Keines der drei Länder misst dem Urteil irgendeine Bedeutung bei. Der tschechische Ministerpräsident Andrej Babis sagte: „Wir haben diese juristische Auseinandersetzung zwar verloren, aber das ist nicht wichtig.“Und auch Ungarns Justizministerin Judit Varga macht deutlich: „Der Spruch hat keine weiteren Konsequenzen.“Es gebe keine Verpflichtung, Asylbewerber aufzunehmen. (mit dpa)