New York, was ist mit dir passiert?
In der Metropole ist das Coronavirus überall. Unser Reporter lebt dort. Den ganzen Tag hört er Sirenen heulen. Eine Insel vor der Küste könnte bald zum Friedhof werden. Und das Klinikpersonal kann nicht mehr. Unterwegs in einer Stadt, die jede Normalität verloren hat
New York Wenn ich früher, in der Zeit vor dem Coronavirus, mit Freunden aus Deutschland telefoniert habe, dann hat man sich am anderen Ende der Leitung oft gefreut, im Hintergrund eine New Yorker Polizeisirene zu hören. Es war ein Stück authentisches Manhattan, das da durch meinen Hörer hinüber in die Wohnstuben von Berlin, München oder Frankfurt drang. Die Sirenen gehörten einfach zum Soundtrack dieser Stadt.
In den vergangenen Tagen haben die Sirenen, die in anderen Zeiten zum rastlosen, dynamischen Lebensgefühl New Yorks beigetragen haben, jedoch einen ganz anderen Klang angenommen. Sie durchschneiden jetzt die Stille der verlassenen Stadt wie das Pfeifen von Bomben, die immer näher einschlagen. Täglich werden es mehr Krankenwagen, die gespenstisch durch die leer gefegten Straßen heulen. Noch Ende der vergangenen Woche kamen sie vielleicht alle halbe Stunde. Bis zum Sonntagabend bekam man das Gefühl, dass der Strom gar nicht mehr abreißt.
Die Zahlen bestätigen den Eindruck, den man bekommt, wenn man nur so dasitzt in seiner Wohnung und den Klängen der Stadt lauscht. 4500 Menschen liegen jetzt auf den Intensivstationen der Stadt. Mehr als 2700 New Yorker sind bereits an dem Virus gestorben. Der Ton der täglichen Pressekonferenzen des Bürgermeisters und des Gouverneurs wird immer düsterer. Diese Woche werde New York seinen D-Day erleben, hieß es am Montag. D-Day, der Tag, an dem die alliierten Truppen 1944 in der Normandie gelandet sind, gilt als der blutigste Tag der amerikanischsten Geschichte, beinahe 7000 amerikanische Soldaten verloren an französischen Stränden ihr Leben.
Doch die Metapher wird nicht nur deshalb verwendet. D-Day war auch der Wendepunkt des Krieges. Es war der Beginn des langen Marsches auf Berlin, der schließlich Europa aus den Klauen der Nazis befreite. Genauso, hofft man in New York, werden sich ab kommender Woche die Bürger ihre Stadt vom tödlichen Virus zurückholen.
Einstweilen kommen die Einschläge jedoch immer näher. Die Pandemie, zu deren Zentrum New
nun geworden ist, wird immer weniger etwas, das in den Nachrichten stattfindet und immer mehr etwas, das vor der Haustür passiert. Jeder kennt mittlerweile jemanden, der krank geworden ist oder noch krank ist, auch meine Partnerin und ich. Einer unserer engeren Freunde liegt seit zehn Tagen mit Fieber im Bett. In eines der hoffnungslos überlasteten Krankenhäuser muss er glücklicherweise noch nicht. Drei Häuser weiter in unserer Straße kam in den vergangenen Tagen bestimmt jeweils fünf Mal ein Krankenwagen. Am Montagfrüh stand dann auf dem Bürgersteig eine jener improvisierten Gedenkstätten, die sonst für junge Männer reserviert sind, die auf der Straße bei Drogenfehden ihr Leben lassen. Diesmal standen die Kerzen jedoch vor einem auf Karton geklebten Foto von „Mami Felicia“, einer alten dominikanischen Dame, die bis vor ein paar Wochen noch jeden Tag an ihrem Gehstock in den Park am Fluss ging.
Doch das Zentrum der Schlacht tobt noch immer hinter verschlossenen Türen. Kaum ein Reporter traut sich noch in die Intensivstationen der Stadt, aus denen die täglichen Horrormeldungen nach außen dringen. Zu sehen sind nur gelegentliche Fernseh-Interviews mit Ärzten und Pflegern, die gerade von ihrer Schicht kommen und völlig verstört in die Kameras schauen. „Es ist tagein, tagaus dasselbe“, sagte einer von ihnen. „Die Leute kommen rein, du intubierst sie, sie sterben. Und wieder von vorne.“Eine befreundete Fotografin, die noch jeden Tag in der Stadt unterwegs ist, um dieses bizarre Kapitel in der Geschichte New Yorks zu dokumentieren, hat in der vergangenen Woche einen Tag lang am Hinterausgang eines Krankenhauses in Brooklyn verbracht. Beinahe jede Stunde wurde dort eine Leiche herausgetragen. „Ich musste mich jedes Mal wieder ins Auto setzen und heulen.“
In dieser Woche, in der die Entscheidungsschlacht um New York geschlagen werden soll, wird sich das Grauen jedoch nicht mehr hinter Krankenhausmauern halten lassen. Selbst die improvisierten Leichenhallen und Kühlwaggons, die vor den Krankenhäusern stehen, so der Vorsitzende der städtischen Gesundheitskommission, könnten zum Wochenende an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen. Man bereite sich darauf vor, in den Parks der Stadt provisorische Gräber auszuheben. New Yorks erster Bürgermeister Bill de Blasio wies die Aussicht auf Massengräber in den Grünanlagen kurz darauf als „komplett falsch“zurück. Man erwäge aber, die kleine, unbewohnte Insel Hart Island vor der Stadtküste für provisorische Beerdigungen zu nutzen.
Die Gespräche bei uns zu Hause und online mit Freunden sind angesichts dieser Aussichten von einer Fassungslosigkeit darüber durchdrungen, wie wir an einen solchen Punkt gelangen konnten. Wie ist die Stadt New York, die dynamischste und mächtigste Stadt des 20. Jahrhunderts, dahin gekommen, dass Leichen in Gräben gelegt und FeldYork lazarette aufgeschlagen werden? Wie sind wir dahin gekommen, dass Ärzte und Pfleger sterben, weil sie keine einfache Schutzmaske und Handschuhe bekommen können? Wie sind wir dahin gekommen, dass der Bürgermeister die Regierung anflehen muss, in Washington gebunkerte Beatmungsgeräte herauszurücken, damit nicht noch mehr Menschen auf Krankenhausfluren verrecken?
Die Krise, darüber ist man sich in New York einig, deckt all die Probleme auf, an denen die amerikanische Gesellschaft krankt. Da sind natürlich an oberster Stelle ein kaputtes Gesundheitssystem und eine Bundesregierung, die man wohlwollend als dysfunktional, weniger wohlwollend als soziopathisch beschreiben muss. „Ich brauche nicht euer Klatschen“, twitterte diese Woche eine New Yorker Ärztin in Anspielung auf das tägliche Ritual eines zweiminütigen Applauses von den Balkonen für die Gesundheitsarbeiter an der Virusfront. „Ich möchte, dass ihr aufhört, Wahnsinnige zu wählen, die weder ein funktionierendes Gesundheitswesen noch eine funktionierende Gesellschaft wollen.“
Die Krise hat Risse in der amerikanischen Gesellschaft offengelegt, die tiefer liegen, als dass man nur Donald Trump dafür verantwortlich machen könnte. Durch das Coronavirus kommt ans Tageslicht, was seit Jahrzehnten in den USA schiefläuft. Um das zu erkennen, reicht der Blick auf die täglich aktualisierte Karte der Stadt mit den neuen Infektionszahlen. Das Virus wütet eindeutig in jenen Gegenden am schlimmsten, in denen die Einkommen am niedrigsten sind – in Harlem, in der Bronx, in Teilen von Queens und Brooklyn. Im reichen Manhattan ist das Risiko, in einer der überlasteten Notaufnahmen an einem Beatmungsgerät zu landen, mit Abstand am geringsten. Und das liegt nicht alleine daran, dass die Reichen der Stadt sich schon auf ihre Landsitze verzogen hatten, bevor der Bürgermeister überhaupt eine Ausgangssperre verhängte. Die Menschen in diesen Gegenden haben oft keine Wahl, als zur Arbeit zu gehen. An vielen Baustellen, an denen neue Türme für Luxuswohnungen hochgezogen werden, wird munter weitergebaut, die Supermarktkassen wollen besetzt sein. 27 Angestellte der städtischen Verkehrsbetriebe – Zugführer, Reinigungskräfte, Sicherheitsbeamte – sind schon gestorben. Jeder sechste Polizeibeamte ist infiziert. Homeoffice ist für sie keine Option.
Die Familien derer, die solche Jobs machen, wohnen dicht gedrängt in engen Wohnquartieren und haben oft keine ausreichende oder gar keine Krankenversicherung. Der größte Risikofaktor in den USA, bemerkte deshalb kürzlich eine Freundin, sei nicht Alter oder Vorerkrankung, sondern Armut. Da ist es kein Wunder, dass bei den Menschen in Harlem mitunter eine Art Nihilismus zu beobachten ist. Social Distancing, die Abstandsregel etwa, wird auf der Straße nur selten eingehalten, man steht genauso wie immer zusammen, um sich zu unterhalten, zu lachen, Musik zu hören. Wenn man es ohnehin nicht vermeiden kann, der Infektion ausgesetzt zu sein, dann müssen einem die Vorsichtsmaßregeln albern vorkommen.
Natürlich gibt es bei all dem auch Dinge, die Hoffnung machen. Die einem zeigen, dass es auch im Amerika Donald Trumps noch Mitgefühl und Gemeinsinn gibt. Da sind etwa die vielen tausend Ärzte, Krankenschwestern und Pflegekräfte, die in die Stadt strömen, um zu helfen oder aus dem Ruhestand kommen, wohl wissend, dass sie sich damit selbst in Gefahr bringen. Oder die Firma in Brooklyn, die bislang Messestände baute und über Nacht eine Produktion von Gesichtsmasken und Schutzkleidung für Krankenhausangestellte ins Leben gerufen hat. Oder der New Yorker Gouverneur Andrew Cuomo, der sich in der Krise als Gegenentwurf zu Donald Trump herauskristallisiert und der seinen Staat mit Ruhe, Übersicht und Mitgefühl durch die Krise steuert. Für viele New Yorker ist Cuomo zurzeit der letzte Fels in der Brandung, der einzige Grund, nicht zu verzweifeln.
Cuomo beschönigt nichts und hat genau deshalb das Vertrauen der New Yorker. Er sagt klar und deutlich, wo die Probleme liegen und was er tut, um sie zu lösen – selbst, wenn es nicht ausreicht. Und er hat es mit viel politischem Geschick geschafft, Donald Trump zu kritisieren und doch eine Leitung ins Weiße Haus offenzuhalten. Als einer der wenigen Politiker hat Cuomo sich in dieser Woche auch getraut, die Frage zu stellen, die alle New Yorker im Hinterkopf haben, die sie aber nicht auszusprechen wagen. Wie nämlich die Stadt und das Land aussehen werden, wenn die Krise einmal vorbei ist. Cuomo ist sich sicher, dass nichts mehr so sein wird wie vorher. „Es wird keine Normalität mehr geben, zu der wir zurückkehren.“
Wie die neue Normalität aussieht, wagte er freilich nicht zu prophezeien. Doch die Alternativen sind klar. Entweder New York, ja ganz Amerika, lernt aus dem Debakel und setzt sich als menschlichere Gesellschaft wieder zusammen. Oder es geht weiter den Weg in ein Gemeinwesen, das Leichen auf einer Insel verscharrt.
Die Schlacht tobt hinter verschlossenen Türen
Das Virus wütet vor allem in den armen Vierteln