Zwischen Befreiung und Katastrophe
Wie die Gemeinde Rettenbach den Aufmarsch der US-Truppen erlebte
Rettenbach Am 8. Mai 1945 ist in Europa der Zweite Weltkrieg mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht zu Ende gegangen. Zwei Wochen vorher wurde die Gemeinde Rettenbach noch in aller Härte vom Aufmarsch der US-Truppen konfrontiert.
Anja Schinzel aus Rettenbach hat in einer Broschüre im Jahr 2005 anlässlich des 900-jährigen Bestehens der Gemeinde einen Beitrag über das Kriegsende in Rettenbach verfasst und erzählt von ihren damaligen Recherchen bei der Bevölkerung. Die einen hätten den Befreier zur Beendigung des Krieges herbeigesehnt, die anderen hätten mit einer gewissen Ängstlichkeit den kommenden Tagen entgegengeblickt. Törichterweise habe es Menschen gegeben, die noch an einen Sieg glaubten und sich bereit machten, Widerstand zu leisten.
Es ist der 22. April 1945, ein Sonntag. Die Amerikaner sind inzwischen bis zur Donau vorgestoßen und haben Lauingen erreicht. Während eines Abendgottesdienstes von Rettenbachs damaligem Pfarrer Max Kuolt ist eine gewaltige Detonation zu hören: Deutsche Soldaten haben die Lauinger Donaubrücke gesprengt. Die US-Panzer lassen sich dadurch nicht aufhalten. Am 24. April 1945 rücken sie von Dillinüber Remshart kommend bis kurz vor Rettenbach vor. Obwohl die Entscheidung über den Sieg im Grunde genommen längst gefallen ist, haben sich die im Ort befindlichen deutschen Truppen vorbereitet, sich den Amerikanern bis aufs Äußerste zu widersetzen. Gegen Mitternacht eröffnen die US-Panzer daraufhin von den Anhöhen südlich von Rettenbach auf den Ort das Feuer. Rettenbach brennt, 16 Anwesen werden zerstört.
Am Morgen dauern die Gefechte noch immer an, bis kurz vor Mittag Pfarrer Kuolt am Turm der Rettenbacher Kirche von seiner Haushälterin die weiße Fahne hissen lässt. Ein kühnes Unterfangen: Kein Ort soll dem Feind kampflos übergeben werden, sagen die Nationalsozialisten, die ein solches Verhalten hart bestrafen. Der Pfarrer aber tritt den US-Truppen entgegen und bittet um Schonung der Bevölkerung. Eine ausdrückliche Rohheit oder irgendwelche Ausfälligkeiten soll es nicht gegeben haben.
Dass der Ortsteil Harthausen glimpflicher davonkommt, ist der Entscheidung eines deutschen Unteroffiziers zu verdanken. Auf ihn hat Baronin Clara von Riedheim eingewirkt. Im April 1974 erhält ihr Sohn, Freiherr Maximilian von Riedheim, Besuch von einem Herrn, der sich als Johann Seebacher aus Freiburg im Breisgau vorstellt – es ist der damalige Unteroffizier, der Harthausen vor weiteren Zerstörungen bewahrt hat. Am 24. April 1945 hätte Seebacher mit etwa 90 Soldaten den Ort verteidigungsbereit halten sollen.
Er erzählt, wie Clara von Riedheim ihn von der Sinnlosigkeit, den Panzern entgegenzutreten, überzeugte. Den Befehl eines Vorstoßes in Richtung Rettenbach führt er nicht mehr aus. Dieses, wie auch die Tatsache, dass ein Kradmelder, der an Seebachers Vorgesetzten berichten soll, infolge eines Granateneinschlags
vom Motorrad stürzt und wieder umkehrt, verhindert Schlimmeres. „Er war jener, der durch seine mutigen Entscheidungen das Schloss und noch weitere Anwesen des Dorfes samt seiner Bewohner vor einer nicht auszudenkenden Katastrophe bewahrt hat“, schreibt Maximilian von Riedheim, der die damalige Begegnung im Jahr 1974 mit dem deutschen Unteroffizier festgehalten hat.
Der Ortsteil Remshart bleibt von den Angriffen verschont. Alois Brunhuber berichtet von Erzählungen seiner Mutter Kreszentia: Widerstand habe es dort seitens deutscher Soldaten nicht gegeben, lediggen lich eine Barriere, die Bewohner aus dem Ort an der Kammelbrücke aus Leiterwagen und landwirtschaftlichem Gerät errichtet hätten. „Die wurde von einem amerikanischen Räumpanzer an den nächsten Gartenzaun geschoben“, so Brunhuber.
Zeitzeugen von den Geschehnissen am 24. April 1945 gibt es immer weniger. „Ich kann mich daran noch sehr gut erinnern, ich war zehn oder elf Jahre alt“, sagt eine Rettenbacherin. Nur ihren Namen wolle sie nicht unbedingt in der Zeitung lesen. Es sei ein furchtbarer Tag gewesen und ununterbrochen sei geschossen worden.
Am darauffolgenden Morgen seien im Dorf die ganzen Stadel in Flammen aufgegangen. Beim Nachbarn sei alles abgebrannt, auch bei ihr zu Hause habe der Vater löschen müssen. Man habe das Vieh aus den Ställen bringen müssen, das sei dann durch das ganze Dorf gelaufen. Noch am Nachmittag habe man nach den Kühen gesucht. Die Rettenbacherin erzählt aber auch davon: Die Amerikaner seien später freundlich gewesen und hätten den Kindern Schokolade und Erdnüsse geschenkt.
Unter den deutschen Soldaten, die in diesen Kampf getrieben wurden, gibt es ebenfalls einen Zeitzeugen: Artur Albrecht ist 92 Jahre alt und lebt im Schwarzwald. In einem Brief im Jahr 2005 an Rettenbachs damalige Bürgermeisterin Dagmar Berger, in dem er seine Erlebnisse schildert, schreibt er unter anderem: „Unmittelbar nach der Gefangennahme mussten wir uns im Laufschritt bergan und die Hände im Nacken auf die Anhöhe von Burgau bewegen. Meine Kameraden und ich haben Rettenbach dabei nur noch brennend gesehen.“Vor vielen Jahren hat Artur Albrecht das Soldatengrab im äußeren Friedhof in Rettenbach, in dem 17 junge deutsche Soldaten ihre letzte Ruhe gefunden haben, besucht. „Es war hart“, sagt er traurig. Unter ihnen seien Kameraden, die er gut gekannt habe.
Gepflegt wird das Soldatengrab von Mitgliedern des Krieger- und Soldatenvereins Rettenbach und von Bürgern aus dem Ort. „Der ärgste Feind des Friedens ist das Vergessen“, so hat es der Verein auf seiner Broschüre anlässlich seines 140-jährigen Bestehens im Jahr 2011 treffend formuliert. Am Freitag, nach genau 75 Jahren, hätte ein Gedenkabend stattfinden sollen, um an das Schicksal der Gefallenen und der Ortsgemeinschaft zu erinnern. Wegen der Corona-Pandemie musste dieser abgesagt werden. „Wir werden in aller Stille, so wie es derzeit möglich ist, einen Kranz niederlegen“, sagt Georg Haindl, der Vorsitzende des Vereins. „Es ist sehr schade.“
Was der Einschlag einer Granate verhinderte