So blieb man zwangsläufig zu Hause
Wie sich zurzeit unser Alltag verändert, ist für viele Menschen vollkommen neu und sogar beängstigend. Menschen meiner Generation haben die derzeitigen Einschränkungen in ähnlicher oder gleicher Weise schon vor 75 Jahren erlebt. Allerdings waren die Lebensumstände im Vergleich zu heute ganz anders. Während des Krieges, jedoch besonders im letzten Kriegsjahr, war nichts mehr so wie in Friedenszeiten. Kulturelles Leben fand kaum noch statt, nur in den Kinos liefen Propagandafilme. In den Geschäften gab es wenig zu kaufen, weil viele Gebrauchs-, vor allem Luxusgüter nicht mehr hergestellt wurden. Nahrungsmittel waren rationiert und nur mit Lebensmittelmarken erhältlich, Kleidung und Schuhe gab es nur auf Bezugsschein. Schlangestehen und Warten beim Einkaufen war normal.
Es gab zwar in vielen Haushalten ein Radiogerät, aber keinen Fernseher, selten ein Telefon. Kommunikation fand in der persönlichen Begegnung oder per Postkarte statt. Auch Arztbesuche waren selten, leichtere Erkrankungen wurden mit Hausmitteln kuriert. Nachbarschaftshilfe war üblich und wurde trotz gelegentlicher Unstimmigkeiten gerne geleistet.
Im Mai 1945 war ich 17 Jahre alt und Schülerin der Maria-TheresiaOberschule. Wir hatten allerdings schon seit Anfang des Jahres keinen geregelten Unterricht mehr, weil wir als Oberstufenklasse aus unserem Evakuierungsort Nördlingen zurückgeholt und vielfach als Hilfskräfte im Bahnhofsdienst eingesetzt wurden, um bei der Unterbringung der aus den deutschen Ostgebieten kommenden Flüchtlingen zu helfen. Nach Kriegsende fiel der Unterricht dann für Monate ganz aus. Ich nutzte die Zeit, zeichnete und malte viel. Meiner Familie und mir ging es damals im Vergleich zu vielen anderen relativ gut – wir mussten nicht unsere Heimat verlassen, hatten nicht durch Bomben Hab und Gut verloren – wir konnten noch im eigenen Haus mit kleinem Garten wohnen. Meine Eltern, 47 Jahre alt, konnten ihrer Arbeit als Zimmermann und Damenschneiderin nachgehen und waren auch von Maßnahmen der Entnazifizierung nicht betroffen.
Wenn ich heute an den Mai 1945 denke, werden einige Erinnerungen und Erlebnisse vordergründig – vor allem das Gefühl der Erleichterung und Dankbarkeit, dass dieser Krieg mit den unzähligen Opfern endlich zu Ende war und wir gesund überlebt hatten. Es konnte nur besser werden! Die Sorge um die vermissten und in Gefangenschaft geratenen Soldaten jedoch blieb. Daneben kostete es viel Mühe, Lebensmittel zu beschaffen, aber auch die schwierige Situation der Wohnverhältnisse in den zerbombten Städten verlangte nach Lösungen. Als die Amerikaner Augsburg besetzten, wurden Sperrzeiten verkündet, wir durften nicht außer Haus. Dieses Verbot wurde bald auf die Abend- und Nachtstunden beschränkt. So blieb man zwangsläufig zu Hause.
Eine andere einschneidende Maßnahme betraf meine Familie indirekt. Die Besatzer beschlagnahmten Wohnhäuser. In unserer Straße mussten Häuser auf der uns gegenüberliegenden Seite innerhalb weniger Stunden geräumt werden. Die Bewohner durften Lebensmittel, Kleidung und Bettzeug mitnehmen. Sie fanden erste Aufnahme bei ihren Nachbarn gegenüber. So kamen auch in unser kleines Zweifamilienhaus, bewohnt von fünf Personen, zusätzlich sieben Menschen. Man half sich und richtete Notlager ein, versuchte miteinander klarzukommen. Ich glaube, dieser Zustand dauerte drei Wochen. Zu uns ins Haus kam auch meine gleichaltrige Schulfreundin, und ich erinnere mich, dass wir manchmal dolmetschen sollten, uns aber mit unserem Schulenglisch ziemlich schwer damit taten. Unsere Frauen im Haus wurden zum Beispiel einmal gebeten, für die Amerikaner zu waschen – sie bekamen dafür reichlich Kernseife.
Etwas zum Essen zu besorgen, wurde in dieser Zeit zur wichtigen Aufgabe. Nahrungsmittel gab es knapp, aber notdürftig ausreichend auf Marken. Nach Kriegsende wurden die Rationen jedoch noch erheblich gekürzt. Da war es gut, einen Garten zu haben. Meine Eltern verbesserten durch Eigeninitiative unsere Lage. Sobald die ersten Züge wieder liefen, fuhr meine Mutter zu den Verwandten ins schwäbische Umland, nähte dort und kam mit Taschen zurück, gefüllt mit Brot, Eiern, Mehl und Schmalz. Mein Vater, sehr gefragt als Handwerker, fuhr mit dem Rad aufs Land, half bei den Bauern und kam mit einem Rucksack voll mit Äpfeln, einem Sack Kartoffeln und anderen Lebensmitteln heim.
Bei allen Schwierigkeiten und Unsicherheiten, wie das Leben weitergehen würde, gab es bei uns jungen Leuten doch eine positive Erwartungshaltung, die uns hoffnungsvoll in die Zukunft blicken ließ. Allerdings mussten wir – aufgewachsen in einem autoritären System – erst lernen, demokratische Strukturen zu verstehen und danach zu handeln.