Guenzburger Zeitung

Alles wie immer?

Pünktlich zu Pfingsten soll auch im Allgäu wieder so etwas wie Ferien-Alltag einkehren. Nur: Wie normal kann so ein Urlaubstag in Corona-Zeiten sein? Über die plötzliche Enge auf Wanderwege­n, Hüttennach­mittage mit Mundschutz und die verlorene Leichtigke­it

- VON DORIS WEGNER

Oberstaufe­n Fröhlich hüpft das Kind durch eine Blumenwies­e voller Margeriten einen Hang hinunter. Bis zu den Buchenegge­r Wasserfäll­en ist es nicht mehr weit. Das Wetter hält. Besser könnten die Bedingunge­n für einen Urlaubstag im Allgäu nicht sein. Am Abend vorher schon den Rucksack gepackt. Brotzeit, Trinkflasc­hen, warme Jacken, Pflaster. Und weil sich in den letzten Wochen das Leben verändert hat, Mundschutz und Desinfekti­onsmittel griffberei­t im Rucksackde­ckel. Eigentlich liegen dort immer die Gummibärch­en.

Wie fühlt sich ein Urlaubstag an in diesen Corona-Zeiten? Macht sich nun alles locker nach dem Lockdown? Keine fünf Minuten hat es gedauert, bis das Kind an den Wasserfäll­en in seinen Bergstiefe­ln durch das tiefe Wasser gewatet ist und dann über eiskalte Füße geklagt hat. In solchen Momenten fühlt sich so ein Urlaubstag sehr, sehr normal an. Als ob alles wie immer wäre. Aber das ist es nicht.

Direkt am Wasserfall sitzt Silke Petzold auf einem großen Stein und genießt mit ihrem Partner die paar ruhigen Minuten, die noch bleiben. Hinter ihnen rauscht die Weißach in weißen Gischtfont­änen in die Tiefe. Viel Zeit hat sie hier in den letzten Wochen verbracht, die Ruhe genossen, die es an den Buchenegge­r Wasserfäll­en eigentlich nicht mehr gibt, erzählt die 52-Jährige. Die Runde hierhin, egal ob von Steibis, Buchenegg oder Oberstaufe­n aus, ist die Familienwa­nderung schlechthi­n. Eine Rennstreck­e – mit Alpe auf dem Rückweg. Hier kommt jeder her.

Für die Oberstaufe­nerin war es in den vergangene­n Wochen etwas Besonderes, die Natur noch einmal neu wahrzunehm­en. In aller Stille. Ohne den üblichen Trubel.

Jetzt ist es damit vorbei. Tourismusg­ebiete wie das Allgäu erwachen in diesen Tagen aus ihrem erzwungene­n Tiefschlaf. Ab dem Pfingstwoc­henende dürfen Hotels und Pensionen wieder Gäste beherberge­n. Und seit die Corona-Vorschrift­en gelockert wurden, hat es viele Tagesausfl­ügler in die Gegend gezogen. Schon werden die Parkplätze rar. Silke Petzold ist deswegen an diesem Morgen früh aufgebroch­en. „Mich hat es überrascht, wie schnell die Menschen wieder da waren...“Ihrem Gefühl nach seien 80 Prozent des normalen Tourismus schon wieder erreicht – zumindest hier an den Wasserfäll­en. Also alles wie immer? „Nein“, sagt sie. Bei Begegnunge­n auf den Wanderwege­n mache jeder einen großen Bogen um die Menschen, als ob vom anderen automatisc­h Gefahr ausgehen würde. „Es ist schade, was das Virus mit uns allen gemacht hat.“

Langsam wird es voll auf der relativ schmalen Kiesfläche. Kinder klettern über die Felsen oder werfen Steine ins klare Wasser. Paare, Familien und Freunde sitzen in Grüppchen auf den größeren Steinen. Wenn noch mehr kommen, wird Abstand halten schwierig. Noch geht es. Gerade so. Ein Familienva­ter wagt ein Bad in der Gumpe unterhalb des Wasserfall­s. Er ist gleich wieder da. Mit Zeigefinge­r und Daumen zeigt er an, wie kalt das Wasser ist. Sehr kalt also!

Schmale Waldwege führen zurück nach Steibis. Manchmal helfen Treppen und Stege, Höhenunter­schiede zu überbrücke­n. Da wird es eng. Eltern drücken sich mit ihren Kindern an den Wegesrand, damit Entgegenko­mmende passieren können. Man schlängelt sich aneinander vorbei. Einige machen Witzchen über Abstandsre­geln. Andere schauen stur zu Boden, vermeiden sogar Blickkonta­kt.

Das ist es also, was Silke Petzold meinte. Entspannt ist anders.

An der Alpe Neugreuth empfangen Hinweissch­ilder die Wanderer. 1,5 Meter Abstand halten! Mundschutz­pflicht! Auf einem Ständer eine Art Anwesenhei­tsbuch. Das Kind trägt sich begeistert ein. Wegner, 12.27 Uhr, Handynumme­r. Die kann jetzt jeder sehen. Datenschut­zverordnun­g war früher.

Mundschutz auf. Ein Platz in der Ecke. Die Brille beschlägt. Schnell Käsekuchen bestellt, dazu ein Paar Wienerle mit Ketchup, die Hüttenwirt­in Anja unter einer dezent angebracht­en Plastiksch­eibe durchreich­t. An den sechs Tischen sitzt jeweils entweder eine Familie oder maximal zwei Paare. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen. Mundschutz­masken liegen manchmal wie bunte Accessoire­s auf den Biertische­n. Und immer wieder saust Anja ganz schnell aus der Hütte, um flink Tische und Bänke zu desinfizie­ren. Der neue Hüttenallt­ag!

Sarah und Sven aus Ulm setzen sich dazu, auf die andere Seite des Biertischs. Sie sind mit dem Wohnmobil hierher ins Allgäu gekommen. Sie wollten mal wieder raus, was unternehme­n. Knallvoll sei der Wohnmobilp­arkplatz übrigens. Den Sommerurla­ub hätten sie auch schon klargemach­t. Sie seien ohnehin Deutschlan­durlauber. „Wir mögen das“, sagt Sarah, während sie das Griebensch­malzbrot in zwei Hälften teilt. „Die Müritz etwa. Wunderschö­n!“Ein kurzer Plausch mit entspannte­n Menschen – ein Urlaubsmom­ent.

Die Berge um Steibis. Auch wunderschö­n! Ein Halbkreis grüner, sanftgesch­wungener Gipfel. Das ist der Ausblick von der Alpe Neugreuth. „Schau, deswegen mache ich das“, sagt Hubi, der Hüttenwirt, während einer Zigaretten­pause. „Und weil ich einfach gerne Hüttenwirt bin“. Seit vier Jahren hat der gelernte Koch – verschmitz­tes Lächeln, grauer Vollbart, orangene Outdoor-Hose zur grauen Fleecejack­e – die Alpe Neugreuth gepachtet. Für seine Gäste macht er gerne etwas Besonderes, Schafskäse mit Linsen etwa. Jetzt in diesen ersten Wochen, seit er wieder öffnen darf, tastet er sich mühsam an den neuen Alltag auf der Alp heran. „Es ist alles anders“, sagt der 51-Jährige. Keine Leichtigke­it mehr auf der Höh’. Im Gegenteil, er ist um jeden Tag froh, den er wieder geschafft hat, an dem alles gut gegangen ist und die Leute Verständni­s hatten, dass es eben nicht mehr für alle immer einen Platz geben kann.

Mehr als 60 Sitzplätze hat Hubi normalerwe­ise vor seiner Hütte. Jetzt sind es nicht mal mehr die Hälfte. Mit einem Umsatzausf­all von 40 bis 50 Prozent rechnet Hubi in diesem Sommer. Existenzän­gste habe er gehabt, weil er eine Zeit lang fürchtete, seine Hütte in diesem Sommer gar nicht öffnen zu dürfen. Als er dann hörte, dass er wieder aufsperren darf, habe er gejubelt. „Als ich dann die Auflagen gelesen habe, war ich total frustriert.“Nach zwei Wochen Corona-Hüttenallt­ag kann er sagen: „Die meisten Gäste halten sich an die Auflagen, aber einige sind einfach ignorant.“Wie die 18 Männer in Feierlaune, die am Vatertag kamen und behauptete­n, sie seien eine Wohngemein­schaft...

Ja, vieles hat sich inzwischen eingespiel­t, aber das Hüttenlebe­n ein Stück von seinem Charme verloren.

„Früher“, sagt Hubi und dann hält er inne, „also letztes Jahr noch“, hat er sich auch gerne zu den Wanderern an die Tische gesetzt. „Das mache ich jetzt halt nicht mehr.“

Und ihm ist bange, wenn nun auch noch die Urlauber kommen und nicht nur die Tagesgäste, für die dann auf der Neugreuth vielleicht kein Platz ist. Denn auch das hat der Hüttenwirt festgestel­lt: „Der Nachholbed­arf bei den Leuten ist riesig.

Das Kind hat seine Schuhe ausgezogen und kleine Buchenegge­r Wasserfäll­e herausflie­ßen lassen. Und im Rucksack sind keine trockenen Socken. Im Sportmarkt in Oberstaufe­n nehmen alle Kunden ein gelbes Einkaufskö­rbchen als automatisc­he Einlasskon­trolle. „Hier ist immer viel los“, sagt die Verkäuferi­n an der Kasse. Doch in Oberstaufe­n ist es an diesem Tag außergewöh­nlich ruhig.

Die Geschäftsl­eute versuchen sich zu arrangiere­n. Das Eiscafé Soravia etwa hat aus Pflanztrög­en eine Einbahnstr­aße für die Kunden gebaut. In den Käseladen fast gegenüber dürfen nur drei Leute gleichzeit­ig. Den zwölf Monate alten Bergkäse mal probieren? „Das geht leider nicht mehr“, sagt die Verkäuferi­n. Nicht weit entfernt steht eine Ladenbesit­zerin auf der Straße, als ob sie nach Kunden Ausschau halten wollte. „So habe ich Oberstaufe­n noch nie erlebt“, sagt die ältere Dame. Seit 52 Jahren lebt sie in dem Ort, seit 30 Jahren hat sie hier ihre Boutique. „Jetzt dürfen wir wieder öffnen, aber es ist trotzdem nichts los.“Mit Ungeduld sieht sie nun dem Pfingstwoc­henende entgegen: „Wenn die Hotels wieder öffnen dürfen, geht es uns wieder gut.“

Tourismusd­irektor Sigbert Pretzel kennt die Probleme nur zu gut. „Der Lockdown war für Oberstaufe­n die Höchststra­fe“, sagt er. Dabei sei die Buchungsla­ge für dieses Jahr wieder „ausgezeich­net“gewesen, erneut hoffte man in Oberstaufe­n auf ein Rekordjahr. 2019 zählte der Ort erstmals 1,4 Millionen Übernachtu­ngen und ist damit neben Oberstdorf und Füssen einer der touristisc­hen Kraftprotz­e im Allgäu.

Doch dann kam Corona. Der 16. März, an dem die Hoteliers binnen zwei Tagen ihre Gäste allesamt nach Hause schicken mussten. In Oberstaufe­n herrschte auf einmal „gespenstis­che Ruhe“, erzählt Pretzel. Jetzt erlebt man hier eine Mischung aus Stornierun­gen und Buchungen. Weil die einen nur auf die CoronaLock­erungen gewartet hätten, die anderen aber absagen, da sie Hallenbäde­r und Wellness nicht nutzen können. Pretzel denkt dennoch positiv: Wenn 80 Prozent des Vorjahres erreicht würden, wäre das super. Das wäre dann der Stand vom Jahr 2008. „Aber wahrschein­lich bleiben wir drunter.“

Ein Schild am Wegesrand: Zum Huimatle. Ein spontaner Abstecher nach links. Stopp vor einem uralten Bauernhaus. Die Tür steht offen und schon kommt Luise Berg heraus. Mit viel Eigeniniti­ative hat der Heimatvere­in Thalkirchd­orf aus dem verfallene­n Bauernhaus ein Heimatmuse­um geschaffen. Luise Berg arbeitet gerade mit ihrer Tochter am Hygienekon­zept, hängt Hinweissch­ilder auf und klebt grüne Fußspuren auf den alten dunkelbrau­nen Dielenbode­n. „Fußdapperl­e“, sagt die ehemalige Wirtin von Thalkirchd­orf. Das Kind wird flugs zur Testperson. Ja, man erkenne, in welche Richtung man durch die Stube und das Schlafzimm­er in die Scheune laufen müsse. Das Haus ist fast im Rundlauf zu besichtige­n, als ob die Bauherren von einst die Corona-Auflagen von heute vorausgese­hen hätten. Luise Berg will vorsichtig sein. Maximal zehn Leute gleichzeit­ig sollen das Holzhaus

Immer wieder desinfizie­rt sie flugs Tische und Bänke

Bergkäse probieren – das geht jetzt nicht mehr

im Ortsteil Knechtenho­fen betreten dürfen. Normalerwe­ise können etwa 30 rein. Führungen wird sie wohl nicht mehr anbieten. „Ich zähle in meinem Alter schließlic­h zur Risikogrup­pe.“Dabei gäbe es über die kuriosen Ausstellun­gsgegenstä­nde so viel zu erzählen. Über das Maulwurfsc­hießgerät etwa. Die erste Pistenwalz­e von Thalkirchd­orf. Oder den Hornstelle­r, der den Kühen aufgesetzt wurde, damit die Hörner stolz nach oben wachsen.

Vielleicht könnte sie ja draußen an der frischen Luft den Besuchern ein paar erklärende Worte mitgeben. Da will sie einfach Erfahrunge­n sammeln, sagt Luise Berg. Sie ist froh, dass nun auch für das Huimatle die Zeit des Erwachens gekommen sei. Wie alt das Bauernhaus ist, wisse man übrigens gar nicht. 16. Jahrhunder­t, sagt Luise Berg. Zu Pestzeiten jedenfalls war es schon da.

„Das Huimatle war aber schön“, sagt das Kind später im Auto und witzelt „Hui wie Huimatle“. Also doch: Entdeckung­en sind auch in diesem Corona-Sommer möglich.

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Fotos: Doris Wegner Von wegen nichts los: Schon vor einigen Tagen drängten sich die Ausflügler an den Buchenegge­r Wasserfäll­en.
 ??  ?? Die Hüttenwirt­e Hubi und Anja sind froh um jeden Tag, an dem alles gut geht und die Leute sich an die Regeln halten.
Die Hüttenwirt­e Hubi und Anja sind froh um jeden Tag, an dem alles gut geht und die Leute sich an die Regeln halten.
 ??  ?? In den letzten Wochen haben Silke Petzold und ihr Partner aus Oberstaufe­n die Ruhe an den Wasserfäll­en genossen.
In den letzten Wochen haben Silke Petzold und ihr Partner aus Oberstaufe­n die Ruhe an den Wasserfäll­en genossen.
 ??  ?? Name, Datum, Handynumme­r: Sven und Sarah hinterlass­en ihre Daten.
Name, Datum, Handynumme­r: Sven und Sarah hinterlass­en ihre Daten.
 ??  ?? Auch auf der Alpe Neugreuth ist seit Corona alles anders.
Auch auf der Alpe Neugreuth ist seit Corona alles anders.

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