Häme und Heuchelei
Wie die Regierungen im Nahen Osten die Proteste in den USA für ihre eigene Propaganda nutzen
Istanbul Prügelnde Sicherheitskräfte, brennende Autos, zertrümmerte Schaufenster, Tränengasschwaden in der Hauptstadt: Was sich derzeit in den USA abspielt, erinnert Regierungen und Kommentatoren im Nahen Osten an die Zustände in ihrer eigenen Region. Bürgerrechte und Demokratie – das fordern die USA gerne von den Staaten in Nahost. Doch nun können diese den Spieß umdrehen und Amerika als Heuchler an den Pranger stellen.
Die TV-Bilder aus den Städten und der von Präsident Trump befohlene Einsatz der Armee auf den Straßen des Landes kratzen am Image einer toleranten Demokratie, das die USA von sich selbst entwerfen. Eine Eliteeinheit der US-Armee, die nach Washington verlegt werden soll, war vor Monaten noch zur Abwehr pro-iranischer Demonstranten in der irakischen Hauptstadt Bagdad im Einsatz.
Angesichts der Dauerkrise zwischen USA und Iran ist es kein Wunder, dass die Regierung in Teheran schnell und kritisch reagiert. Das Mullah-Regime, das selbst hunderte Demonstranten niederschießen ließ, ruft Washington auf, mit der „Gewalt gegen das eigene Volk“aufzuhören. Die Welt sei solidarisch mit dem amerikanischen Volk im Widerstand gegen die „Unterdrückung“durch die Regierung, sagte Außenamtssprecher Abbas Musawi.
Außenminister Dschawad Sarif verglich die Gewalt der amerikanischen Polizei mit Trumps Iran-Politik des „maximalen Drucks“. Trump will Teheran zu Zugeständnissen in der Atomfrage zwingen und verhängt seit zwei Jahren immer neue Wirtschaftssanktionen. Das sei eine „Knie-auf-Hals-Technik“wie beim Tod von George Floyd, kommentierte Sarif.
Auch Syrien lässt sich die Chance nicht entgehen, die US-Politik anzuprangern. Der Krieg von Staatspräsident Baschar al-Assad gegen die Opposition, der fast eine halbe Million Menschenleben kostete, sei ein Abwehrkampf gegen eine internationale Verschwörung. Als die syrische Regierung bei Ausbruch der Unruhen 2011 die Armee eingesetzt habe, sei sie von den USA scharf kritisiert worden – jetzt geschehe in den USA dasselbe, twitterte Parlamentsabgeordneter Fares Schebabi. „Man stelle sich vor, eine Koalition verschiedener Staaten und Terrorgruppen würde amerikanische Demonstranten bewaffnen und bezahlen, damit sie den amerikanischen Staat zerstören. Genau das ist in Syrien passiert.“
Selbst vom Nato-Partner Türkei kommt Kritik. Präsident Recep Tayyip Erdogan geißelte die „unmenschliche Mentalität“der Polizei sowie „Rassismus und Faschismus“in den USA. Sein Land werde weiter für die Menschenrechte eintreten, erklärte Erdogan – während er in Istanbul den Taksim-Platz von bewaffneten Polizisten abriegeln ließ, um Kundgebungen zum Jahrestag der Gezi-Proteste zu unterbinden.
Erdogans Kommunikationschef Fahrettin Altun beklagte einen Angriff amerikanischer Polizisten auf einen Produzenten des türkischen Auslandssenders TRT World. „Die Pressefreiheit ist das Rückgrat der Demokratie“, twitterte er – während in der Türkei laut Journalisten-Gewerkschaft
85 Berichterstatter im Gefängnis sitzen. Auf dem Pressefreiheit-Index von Reporter ohne Grenzen rangiert die Türkei auf Platz 154 von 180 Staaten.
Satirische Kommentare in sozialen Medien spießen Parallelen zwischen der Reaktion der Trump-Regierung auf die Proteste und dem Verhalten orientalischer Despoten auf. Er fühle sich an den Arabischen Frühling von 2011 erinnert, der autoritäre Regime hinwegfegte, schrieb Blogger Karl Sharro. „Die Situation in den Vereinigten Staaten, einem ethnisch gespaltenen Land südlich von Kanada mit einem großen Atomwaffenarsenal, ist angespannt“, notierte Sharro in einer Parodie des Stils westlicher Nahost-Beobachter. Trump sieht er als „umstrittenen Regimechef, der in seinem Präsidentenpalast isoliert ist“.