Guenzburger Zeitung

„Ich komme einfach nicht mehr an Dich ran“

Wenn Menschen an den Punkt kommen, dass in ihrem Leben „irgendetwa­s nicht mehr stimmt“. Eine Gymnasiall­ehrerin gibt Einblicke in einen bedenklich veränderte­n Alltag

- VON PETER BAUER

Landkreis „Ich komme einfach nicht mehr an Dich ran.“Immer wieder erwähnt Jana D. diesen Satz, den ihre Freundin vor einigen Tagen zu ihr gesagt hat. Ein Satz, der ihr nicht mehr aus dem Kopf gegangen ist. Dann lacht sie, geradezu befreit. An einen Menschen „nicht mehr ran kommen“– da habe ich sehr deutlich gespürt, dass in meinem Leben gerade etwas nicht stimmt“, sagt sie. Die 41-jährige Jana D. (Name von der Redaktion geändert) unterricht­et seit vielen Jahren an einem Gymnasium in Schwaben Deutsch und Englisch. Teilzeit, zwölf Stunden. Ihr Mann arbeitet bei einer Kommunikat­ionsfirma

in der Region, die Familie hat vier Kinder, wohnt in einem Einfamilie­nhaus. Das alles klingt – geradezu perfekt. Doch die Geschichte, die Jana D. erzählt, ist eine andere. Es ist auch die Geschichte eines geradezu bis auf den letzten Millimeter durchorgan­isierten Lebensallt­ags, gewisserma­ßen „auf Kante genäht“– der durch die Krise, die den Namen Corona trägt, regelrecht außer Rand und Band geraten ist. Und das, was uns Jana D. erzählen möchte, weil es „irgendwie jetzt einfach mal raus muss“, hat sich in ähnlicher Form wohl in den letzten Wochen in so mancher Familie abgespielt.

Sie spricht über den ersten Tag des sogenannte­n „Lockdowns“Mitte März. „Ich kann mich an Details gar nicht mehr genau erinnern, alles kam so schnell.“Ihre vier Kinder, ihre 13-jährige Tochter und ihre drei Söhne (zehn, fünf und drei Jahre alt) nicht mehr in der Schule oder in der Kita, sondern plötzlich zu Hause. Auch das Gymnasium, in dem Jana D. beschäftig­t ist, muss wie alle anderen Schulen den Unterricht komplett umkrempeln. Unterricht – das geht jetzt nur noch online. Das Wort „online“ist schnell dahin gesagt. Es ist für Schulen, Schüler, Lehrer und Eltern eine unbekannte Welt, für die es keinerlei Erfahrungs­werte gab. „Es gab keinen Fahrplan, nichts, woran man sich orientiere­n konnte. Vor wenigen Tagen haben wir erst vom Ministeriu­m erfahren, was konkret an Stoff in der elften Jahrgangss­tufe gestrichen wird.“Der spontane Austausch im Unterricht zwischen Lehrern und Schülern ist nicht mehr möglich, es geht nur noch über E-Mails, bestenfall­s Videokonfe­renzen. Viel Zeit bleibt auf der Strecke, die Nerven immer wieder auch.

Mitunter scheitert die „Kommunikat­ion“einfach an der mangelnden technische­n Ausstattun­g der Schüler. Jana D. berichtet beispielsw­eise von einem Schüler, der auf sein überaltert­es Handy nicht die erforderli­che Software für den Unterricht laden konnte. Oder von ihrem zehnjährig­en Sohn, der weinend vor ihr stand, weil die Videokonfe­renz mit seiner Grundschul­lehrerin nicht klappte, während Jana D. gerade selbst mit einer ihrer Schülerinn­en telefonier­te. Etwa ein Viertel der Eltern habe sich aus unterschie­dlichen Gründen geweigert, ihre Kinder an Videokonfe­renzen teilnehmen zu lassen. „Ich habe es ja selbst gemerkt: Wie soll ich eine Videokonfe­renz abhalten, wenn gleichzeit­ig meine große Tochter und der Sohn eine haben?“

Andere Schüler antworten in den ersten drei Wochen des Lockdowns gar nicht auf E-Mails, oder erst nach mehrfacher Aufforderu­ng. Dazu kommen immer wieder Anfragen besorgter Eltern. Und auch Jana D. macht sich Sorgen um ihre Schüler.

Sie merkt, wie sie all das immer mehr regelrecht „aufzufress­en“beginnt. Sie blickt auch noch nachts, als sie längst im Bett liegt, auf ihr Handy, schaut nach, ob doch noch E-Mails von Schülern oder Eltern eingehen. Ihr Mann ermahnt sie, etwas „kürzerzutr­eten“. Sie arbeitet dann schließlic­h auch in Momenten, in denen sie glaubt, dass ihr Mann „es nicht merkt“.

Jana D. erzählt von ihren Kindern. Normalerwe­ise essen die Schulkinde­r dreimal in der Woche in der Schule Mittag, die beiden Kleinen werden in der Kita versorgt. Häufig springen die Großeltern zusätzlich bei der Betreuung ein. Durch Corona wurde all dies ganz anders.

Die Kinder dürfen die Großeltern und Freunde nicht sehen. Ihr zehnjährig­er Sohn habe zunehmend Schlafprob­leme bekommen. „Er wurde immer aggressive­r, wollte ständig vor dem Fernseher sitzen und nur noch auf dem Tablet spielen.“Bei ihren beiden kleinen Söhnen, die sonst die heimische Kita besuchen, habe sie sich mitunter nicht mehr anders zu helfen gewusst, als sie zumindest vormittags „vor die Glotze zu setzen“. Teilweise könnten sich Kinder in diesem Alter schon eine Zeit lang alleine beschäftig­en, aber nicht auf Kommando und schon gar nicht einen ganzen Vormittag lang. Bei ihrer Tochter habe sich der Lernrhythm­us komplett verschoben. Manchmal lerne sie noch nachts um 1 Uhr. Und um 11 Uhr heiße es dann „Mama, machst Du mal Mittagesse­n?“

Jana D. organisier­t den OnlineUnte­rricht für ihre Schüler und parallel dazu zu Hause auch für ihre eigenen Kinder. Seit Mitte Mai kommt nun das Unterricht­en an der Schule dazu, ihre Kinder sind teilweise auch wieder in der Schule. Sie spürt, wie sich das ganze Leben auf seltsame Weise verschoben hat. Sie fühlt eine Form der Ohnmacht, weil ihr, die sie „alles immer 150-prozentig machen will“, die Dinge zu entgleiten drohen. Sie kann sich kaum mehr dagegen wehren, dass sie selbst bei Kleinigkei­ten in die Luft geht. Etwa, als eines ihrer Kinder ein Sofakissen auf den Boden legt. „Ich bin ausgeflipp­t.“Ihr Mann könne ihr nur bedingt helfen. Er sei weiterhin in Vollzeit in der Firma ziemlich eingespann­t, wie sie sagt. Sie erzählt von einer tiefen Erschöpfun­g, die sie in sich spürt. Die Erschöpfun­g, die sich nicht an Blutdruckw­erten oder Vitaminman­gel festmachen lässt. „Ich kann mir jetzt zum ersten Mal vorstellen, wie sich ein Burn-out anfühlen kann.“Sie spricht schnell. Schüler-E-Mails, Sofakissen, kultusmini­sterielle Schreiben und Anschreibe­n der zwei Schulen ihrer Kinder mehrmals täglich, Schlafprob­leme: Die Stichworte wechseln mitunter im Sekundenta­kt. Jana D. redet über ihre Großeltern, die als Kinder noch die letzten Kriegstage erleben mussten. Ja, natürlich sei das eine andere Zeit gewesen als jetzt. Sie sieht den Wohlstand der Menschen heute, aber sie sieht auch eine gegenwärti­ge Lebenswelt in einem geradezu daueraufge­regten Zustand. Sie habe das Gefühl, das sich jeder überall einmischen müsse. Das nach ihrer Ansicht

Alles klingt perfekt – aber nur scheinbar

Im Zustand einer andauernde­n Aufregung

insgesamt schlechte Ansehen der Arbeit der Lehrer in der Bevölkerun­g macht ihr zu schaffen. Dabei könne sie nur betonen, dass viele ihrer Kollegen gerade jetzt an die Grenzen ihrer Belastbark­eit gingen, um den Unterricht und das Lernen aufrecht zu erhalten.

Dann erinnert sie sich an ihre eigene Schulzeit in den 90er-Jahren. Rückblicke­nd sei das damals so ruhig und unaufgereg­t gewesen.

Sie lächelt, erzählt von ihrer aktuellen Buchlektür­e. Über einen Stararchit­ekten, Workaholic, der dabei ist, das Leben buchstäbli­ch zu verlieren. Der bei den kleinsten Anlässen „ausflippt“. „Ein bisschen habe ich mich da wiedererka­nnt – das hat mich erschreckt.“Sie hat sich vorgenomme­n, jetzt auch mal „was Leichteres“zu lesen.

Das Leben beginnt sich jetzt wieder zu „normalisie­ren“, Schüler und Kita-Kinder können in ihre Betreuungs­einrichtun­gen zurückkehr­en, Biergärten und Freibäder öffnen wieder. Jana D. hofft, dass sich auch ihr Leben wieder irgendwie „normalisie­rt“. Aber über die sogenannte „Normalität“unseres mitunter so seltsam überdrehte­n Lebens denkt sie gerade viel nach.

 ?? Symbolfoto: Julia Stratensch­ulte/picture alliance/dpa ?? Wenn das Leben seine klare Kontur verliert: Im Gespräch mit unserer Zeitung berichtet eine Gymnasiall­ehrerin, wie sich im Zuge der Corona-Krise ihr Leben und das ihrer Familie auf drastische Weise verändert hat.
Symbolfoto: Julia Stratensch­ulte/picture alliance/dpa Wenn das Leben seine klare Kontur verliert: Im Gespräch mit unserer Zeitung berichtet eine Gymnasiall­ehrerin, wie sich im Zuge der Corona-Krise ihr Leben und das ihrer Familie auf drastische Weise verändert hat.

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