„Ich komme einfach nicht mehr an Dich ran“
Wenn Menschen an den Punkt kommen, dass in ihrem Leben „irgendetwas nicht mehr stimmt“. Eine Gymnasiallehrerin gibt Einblicke in einen bedenklich veränderten Alltag
Landkreis „Ich komme einfach nicht mehr an Dich ran.“Immer wieder erwähnt Jana D. diesen Satz, den ihre Freundin vor einigen Tagen zu ihr gesagt hat. Ein Satz, der ihr nicht mehr aus dem Kopf gegangen ist. Dann lacht sie, geradezu befreit. An einen Menschen „nicht mehr ran kommen“– da habe ich sehr deutlich gespürt, dass in meinem Leben gerade etwas nicht stimmt“, sagt sie. Die 41-jährige Jana D. (Name von der Redaktion geändert) unterrichtet seit vielen Jahren an einem Gymnasium in Schwaben Deutsch und Englisch. Teilzeit, zwölf Stunden. Ihr Mann arbeitet bei einer Kommunikationsfirma
in der Region, die Familie hat vier Kinder, wohnt in einem Einfamilienhaus. Das alles klingt – geradezu perfekt. Doch die Geschichte, die Jana D. erzählt, ist eine andere. Es ist auch die Geschichte eines geradezu bis auf den letzten Millimeter durchorganisierten Lebensalltags, gewissermaßen „auf Kante genäht“– der durch die Krise, die den Namen Corona trägt, regelrecht außer Rand und Band geraten ist. Und das, was uns Jana D. erzählen möchte, weil es „irgendwie jetzt einfach mal raus muss“, hat sich in ähnlicher Form wohl in den letzten Wochen in so mancher Familie abgespielt.
Sie spricht über den ersten Tag des sogenannten „Lockdowns“Mitte März. „Ich kann mich an Details gar nicht mehr genau erinnern, alles kam so schnell.“Ihre vier Kinder, ihre 13-jährige Tochter und ihre drei Söhne (zehn, fünf und drei Jahre alt) nicht mehr in der Schule oder in der Kita, sondern plötzlich zu Hause. Auch das Gymnasium, in dem Jana D. beschäftigt ist, muss wie alle anderen Schulen den Unterricht komplett umkrempeln. Unterricht – das geht jetzt nur noch online. Das Wort „online“ist schnell dahin gesagt. Es ist für Schulen, Schüler, Lehrer und Eltern eine unbekannte Welt, für die es keinerlei Erfahrungswerte gab. „Es gab keinen Fahrplan, nichts, woran man sich orientieren konnte. Vor wenigen Tagen haben wir erst vom Ministerium erfahren, was konkret an Stoff in der elften Jahrgangsstufe gestrichen wird.“Der spontane Austausch im Unterricht zwischen Lehrern und Schülern ist nicht mehr möglich, es geht nur noch über E-Mails, bestenfalls Videokonferenzen. Viel Zeit bleibt auf der Strecke, die Nerven immer wieder auch.
Mitunter scheitert die „Kommunikation“einfach an der mangelnden technischen Ausstattung der Schüler. Jana D. berichtet beispielsweise von einem Schüler, der auf sein überaltertes Handy nicht die erforderliche Software für den Unterricht laden konnte. Oder von ihrem zehnjährigen Sohn, der weinend vor ihr stand, weil die Videokonferenz mit seiner Grundschullehrerin nicht klappte, während Jana D. gerade selbst mit einer ihrer Schülerinnen telefonierte. Etwa ein Viertel der Eltern habe sich aus unterschiedlichen Gründen geweigert, ihre Kinder an Videokonferenzen teilnehmen zu lassen. „Ich habe es ja selbst gemerkt: Wie soll ich eine Videokonferenz abhalten, wenn gleichzeitig meine große Tochter und der Sohn eine haben?“
Andere Schüler antworten in den ersten drei Wochen des Lockdowns gar nicht auf E-Mails, oder erst nach mehrfacher Aufforderung. Dazu kommen immer wieder Anfragen besorgter Eltern. Und auch Jana D. macht sich Sorgen um ihre Schüler.
Sie merkt, wie sie all das immer mehr regelrecht „aufzufressen“beginnt. Sie blickt auch noch nachts, als sie längst im Bett liegt, auf ihr Handy, schaut nach, ob doch noch E-Mails von Schülern oder Eltern eingehen. Ihr Mann ermahnt sie, etwas „kürzerzutreten“. Sie arbeitet dann schließlich auch in Momenten, in denen sie glaubt, dass ihr Mann „es nicht merkt“.
Jana D. erzählt von ihren Kindern. Normalerweise essen die Schulkinder dreimal in der Woche in der Schule Mittag, die beiden Kleinen werden in der Kita versorgt. Häufig springen die Großeltern zusätzlich bei der Betreuung ein. Durch Corona wurde all dies ganz anders.
Die Kinder dürfen die Großeltern und Freunde nicht sehen. Ihr zehnjähriger Sohn habe zunehmend Schlafprobleme bekommen. „Er wurde immer aggressiver, wollte ständig vor dem Fernseher sitzen und nur noch auf dem Tablet spielen.“Bei ihren beiden kleinen Söhnen, die sonst die heimische Kita besuchen, habe sie sich mitunter nicht mehr anders zu helfen gewusst, als sie zumindest vormittags „vor die Glotze zu setzen“. Teilweise könnten sich Kinder in diesem Alter schon eine Zeit lang alleine beschäftigen, aber nicht auf Kommando und schon gar nicht einen ganzen Vormittag lang. Bei ihrer Tochter habe sich der Lernrhythmus komplett verschoben. Manchmal lerne sie noch nachts um 1 Uhr. Und um 11 Uhr heiße es dann „Mama, machst Du mal Mittagessen?“
Jana D. organisiert den OnlineUnterricht für ihre Schüler und parallel dazu zu Hause auch für ihre eigenen Kinder. Seit Mitte Mai kommt nun das Unterrichten an der Schule dazu, ihre Kinder sind teilweise auch wieder in der Schule. Sie spürt, wie sich das ganze Leben auf seltsame Weise verschoben hat. Sie fühlt eine Form der Ohnmacht, weil ihr, die sie „alles immer 150-prozentig machen will“, die Dinge zu entgleiten drohen. Sie kann sich kaum mehr dagegen wehren, dass sie selbst bei Kleinigkeiten in die Luft geht. Etwa, als eines ihrer Kinder ein Sofakissen auf den Boden legt. „Ich bin ausgeflippt.“Ihr Mann könne ihr nur bedingt helfen. Er sei weiterhin in Vollzeit in der Firma ziemlich eingespannt, wie sie sagt. Sie erzählt von einer tiefen Erschöpfung, die sie in sich spürt. Die Erschöpfung, die sich nicht an Blutdruckwerten oder Vitaminmangel festmachen lässt. „Ich kann mir jetzt zum ersten Mal vorstellen, wie sich ein Burn-out anfühlen kann.“Sie spricht schnell. Schüler-E-Mails, Sofakissen, kultusministerielle Schreiben und Anschreiben der zwei Schulen ihrer Kinder mehrmals täglich, Schlafprobleme: Die Stichworte wechseln mitunter im Sekundentakt. Jana D. redet über ihre Großeltern, die als Kinder noch die letzten Kriegstage erleben mussten. Ja, natürlich sei das eine andere Zeit gewesen als jetzt. Sie sieht den Wohlstand der Menschen heute, aber sie sieht auch eine gegenwärtige Lebenswelt in einem geradezu daueraufgeregten Zustand. Sie habe das Gefühl, das sich jeder überall einmischen müsse. Das nach ihrer Ansicht
Alles klingt perfekt – aber nur scheinbar
Im Zustand einer andauernden Aufregung
insgesamt schlechte Ansehen der Arbeit der Lehrer in der Bevölkerung macht ihr zu schaffen. Dabei könne sie nur betonen, dass viele ihrer Kollegen gerade jetzt an die Grenzen ihrer Belastbarkeit gingen, um den Unterricht und das Lernen aufrecht zu erhalten.
Dann erinnert sie sich an ihre eigene Schulzeit in den 90er-Jahren. Rückblickend sei das damals so ruhig und unaufgeregt gewesen.
Sie lächelt, erzählt von ihrer aktuellen Buchlektüre. Über einen Stararchitekten, Workaholic, der dabei ist, das Leben buchstäblich zu verlieren. Der bei den kleinsten Anlässen „ausflippt“. „Ein bisschen habe ich mich da wiedererkannt – das hat mich erschreckt.“Sie hat sich vorgenommen, jetzt auch mal „was Leichteres“zu lesen.
Das Leben beginnt sich jetzt wieder zu „normalisieren“, Schüler und Kita-Kinder können in ihre Betreuungseinrichtungen zurückkehren, Biergärten und Freibäder öffnen wieder. Jana D. hofft, dass sich auch ihr Leben wieder irgendwie „normalisiert“. Aber über die sogenannte „Normalität“unseres mitunter so seltsam überdrehten Lebens denkt sie gerade viel nach.