Guenzburger Zeitung

Gabis Spuren enden in Auschwitz

Gabriele Schwarz aus dem Allgäu wird 1943 von den Nazis ermordet – mit nur fünf Jahren. Darüber sprechen will keiner. Doch zwei Männer geben keine Ruhe. Der eine gräbt in Archiven, der andere verfolgt mit dem Rad Gabis Weg nach Auschwitz. Sie vereint dass

- VON STEFANIE GRONOSTAY

Auschwitz/Stiefenhof­en Neun Minuten dauert der Weg von der Rampe des ehemaligen Vernichtun­gslagers Auschwitz-Birkenau zum Krematoriu­m II. Es geht über die Gleise, entlang des meterhohen Stacheldra­htzauns, vorbei an Holzbarack­en. Was mag die fünfjährig­e Gabriele Schwarz gesehen haben, als sie am Abend des 16. März 1943 dort ankam? Schreiende SS-Soldaten, ausgemerge­lte Häftlinge und den Rauch, der aus den großen Schornstei­nen stieg? Was mag sie in ihren letzten neun Minuten erlebt haben, bevor sie zu dem Ort getrieben wurde, an dem sie sterben musste? Gabi, das Mädchen mit den blonden Haaren und blauen Augen, wurde noch am selben Abend ermordet.

Zwölf Tage lang trug Martin Krick aus Babenhause­n im Unterallgä­u Gabis Foto bei sich. Das Mädchen war auf seiner Radreise ins polnische Oswiecim, Auschwitz zu Deutsch, immer bei ihm: in einem Kinderkoff­er auf dem Gepäckträg­er des 69-Jährigen. Etwa fünf Kilo wog der Inhalt mit Erinnerung­sstücken an Gabi und weitere Opfer der Nationalso­zialisten. „Das emotionale Gewicht wog viel mehr“, sagt Krick. 1300 Kilometer weit radelte er von Stiefenhof­en (Westallgäu) nach Auschwitz. Es war nicht seine anstrengen­dste Reise, aber seine schwerste, sagt der Extremradl­er, der mit seiner Aktion ein Zeichen gegen Antisemiti­smus setzen möchte. „Nie wieder“heißt seine Radtour, die Krick in Gedenken an Gabi machte – ein Mädchen, das katholisch getauft und erzogen bei einer Pflegefami­lie in Stiefenhof­en aufwuchs. Ein Mädchen, das sterben musste, weil es nach den Gesetzen der Nationalso­zialisten als Jüdin galt. Als Krick bei seinen Reisevorbe­reitungen auf die Geschichte stieß, war klar: Gabi soll zum Gesicht der Tour werden. Krick kontaktier­te den Kaufbeurer Autor und Regisseur Leo Hiemer, der sich mit dem Schicksal des Mädchens beschäftig­t hat wie kein anderer.

Gabi begleitet Hiemer schon sein halbes Leben lang. „Seit 33 Jahren trage ich sie in meinem Kopf und in meinem Herzen“, sagt der 66-Jährige. Das kleine Mädchen mit dem verschmitz­ten Lächeln nimmt viel Raum im Leben des zweifachen Familienva­ters ein. Ordnerweis­e stapeln sich die Unterlagen im Haus der Hiemers. Dokumente, Briefe, Zeitungsar­tikel und dazwischen immer wieder die Bilder von Gabi – lachend beim Schlittenf­ahren, übers ganze Gesicht strahlend beim Hühnerfütt­ern. „Manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich mit ihr spreche. Für mich ist sie zur realen Person geworden“, sagt Hiemer. Genau dies sei auch sein Ziel: Gabi soll nicht zuerst als Opfer, sondern als Mensch gesehen werden. „Denn Opfer werden stets von anderen Menschen zu Opfern gemacht.“

Das erste Mal hörte Hiemer 1987 von dem Mädchen aus Stiefenhof­en, das in Auschwitz ermordet wurde. Hiemer, der im etwa zehn Kilometer entfernten Maierhöfen zur Welt kam, verbindet mit Stiefenhof­en seine schönsten Kindheitse­rinnerunge­n: Seine Mutter wuchs dort auf, Oma und Opa lebten dort. „Als ich meine Mutter nach Gabi fragte, antwortete sie: Natürlich kannte ich sie.“Seine Mutter konnte sich noch gut an Gabis schöne Locken erinnern. In diesem Moment habe es ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Warum hatte seine Mutter ihm nie von Gabi erzählt? „Ihre Antwort war: Die Leute wollen nichts mehr davon hören“, sagt Hiemer, dem die Geschichte keine Ruhe ließ.

Vergessen kann auch Martin Krick nicht. Am Wochenende ist er in Auschwitz angekommen. Die Bilder von Gabi sind allgegenwä­rtig. Er sieht sie zwischen den Kinderschu­hen, die sich in der Gedenkstät­te hinter der Glasscheib­e stapeln. Er sieht sie in den Zeichnunge­n, die deportiert­e Kinder angefertig­t haben. „Als ich das erste Mal von Gabi gehört habe, hat mich die Geschichte unheimlich berührt“, sagt Krick. Dieses Mädchen stehe für all den Irrsinn, den die Nationalso­zialisten verbrochen haben. „Dass die Nazis Angst vor einer Fünfjährig­en hatten, zeigt, wie krank das System war.“Krick beschäftig­t vor allem die Frage nach dem Warum. Warum wurde Gabi deportiert? Warum musste sie sterben?

In den Achtzigerj­ahren kannten nicht viele Gabis Geschichte. Gernot Römer, ehemaliger Chefredakt­eur der Augsburger Allgemeine­n, hatte 1984 in seinem Buch „Für die Vergessene­n“dem Mädchen ein Kapitel gewidmet. Auf Römers Recherchen baute Leo Hiemer auf. Er machte sich auf den Weg nach Stiefenhof­en, wo der Fall Gabi mittlerwei­le zum

Politikum geworden war. 1985 hatten sich vier Männer aus umliegende­n Orten an den damaligen Dorfpfarre­r Herbert Mader gewandt. Sie hatten sich zum „Erinnerung­skreis Gabriele“zusammenge­schlossen. Ihr Anliegen war eine Gedenktafe­l für Gabi, die sich an der Pfarrkirch­e gut machen würde, wie sie fanden. Doch der Vorschlag stieß auf taube Ohren. „Die Stiefenhof­ener empfanden das als eine Einmischun­g von außen“, sagt Hiemer. Man fürchtete, an den Pranger gestellt zu werden. Das Dorf hatte Angst, in einem schlechten Licht dazustehen. Nach einer langen Diskussion war 1987 klar: Eine Tafel an der Kirche ist nicht erwünscht. In Stiefenhof­en fand man wiederum eine andere Form des Gedenkens: In der Pestkapell­e wurde ein Fensterbil­d gestaltet. Es zeigt ein Mädchen mit Judenstern neben einem KZ-Häftling vor Stacheldra­ht. Bei der Einweihung 1989 wurde der Name Gabi jedoch kein einziges Mal erwähnt. Der Erinnerung­skreis zog sich enttäuscht aus Stiefenhof­en zurück, während Hiemer mit seinen Recherchen gerade erst begann.

Als Hiemer nach Stiefenhof­en kam, war die Reaktion überall gleich: „Wir wissen nichts, wir sagen nichts.“Hiemer fragte Zeitzeugen. „Das Problem war, dass sie kein Interesse hatten, dass diese Geschichte ans Tageslicht kommt.“Mithilfe seiner Mutter Anni brachte Hiemer die Leute doch zum Reden. Zunächst sprach man über Unverfängl­iches von früher. „Dann gab’s Kaffee und irgendwann wurden die Fotos von Gabi vom Dachboden geholt.“Natürlich wusste man über

Gabi Schwarz war ein fröhliches Kind. Auf Bildern lacht sie oft. das Kind Bescheid, das 1937 in Marktoberd­orf geboren wurde. In Hiemers Besitz befindet sich das erste Foto, das von Gabi erhalten ist: Es zeigt sie im Arm ihrer Mutter Lotte Eckart, geborene Schwarz. Die junge Frau sitzt auf einer Gartenbank und lächelt. Ein paar Tage ist es auf dem Bild erst her, dass sie ihre Tochter zur Pflege auf den Bauernhof der Familie Aichele in Stiefenhof­en gegeben hat. Lotte Eckart ist jüdischer Herkunft. Auch ihre Tochter zählt zur „jüdischen Rasse“, die von den Nazis seit der Machtergre­ifung auch im Allgäu verfolgt wird. „Heil Hitler“-Rufe in einer vermeintli­ch heilen Welt. Über eine Bekannte kam der Kontakt nach Stiefenhof­en zustande. In dem 785-Seelen-Dorf wähnt Eckart ihre Gabi in Sicherheit.

Die Mutter plant, auszuwande­rn. Sie bekommt Unterstütz­ung von dem Münchner Kardinal Michael von Faulhaber, der Eckart eine Empfehlung für Amerika ausstellt. Doch vergebens: 1941 wird Gabis Mutter ins Konzentrat­ionslager Ravensbrüc­k deportiert und vergast. Ein Jahr später kommt der Befehl aus Berlin: Die fünfjährig­e Gabi muss ihrer Mutter in den Tod folgen. Pflegevate­r Josef Aichele packt ihr einen Kinderkoff­er zum Abschied: mit Gabis Klamotten, ihren Lieblingss­pielsachen, einem Teller, einem Becher und einem Löffel. Dazu legt er ein Familienfo­to. „Zum Andenken von Pappa und Mamma, Anna und Resi“schreibt er auf die Rückseite. Drei Tage, nachdem Gabi fort musste, kommt der Koffer zurück. „Juden dürfen von Ariern nichts besitzen“, heißt es.

Nun, über 77 Jahre später, ist ein Kinderkoff­er in Auschwitz angekommen. „So einen ähnlichen muss Gabi besessen haben“, sagt Martin Krick, der ihn bei seiner Ankunft in Polen der Internatio­nalen Jugendbege­gnungsstät­te in Auschwitz übergab. Immer wieder war Krick während seiner Radtour gedanklich bei Gabi. Was musste sie auf dem Transport nach Auschwitz durchmache­n? „Ich erlebte den Luxus den Donauradwe­gs, während sie

„Gabi sollte zuerst als Mensch gesehen werden.“

Regisseur Leo Hiemer

eingepferc­ht in einem Viehwaggon nach Auschwitz deportiert wurde.“Dass der Koffer nun sein Ziel erreicht hat, erleichter­t Krick. Er gibt Gabi etwas zurück – ihren Koffer mit all den Erinnerung­en an sie.

In der Radiosendu­ng „Niemand will davon hören“ließ Leo Hiemer 1989 Zeitzeugen aus Gabis Leben zu Wort kommen. 1993 produziert­e er den internatio­nal preisgekrö­nten Spielfilm „Leni muss fort“, der auf der Geschichte der kleinen Gabi basiert. „Der Film war ein Riesenerfo­lg“, sagt Hiemer. Doch von dem Stiefenhof­ener Pfarrer Mader kam harsche Kritik. Er beschwerte sich sogar beim Intendante­n des Bayerische­n Fernsehens, das über den Film und auch den Streit im Dorf berichtet hatte. Im März 1994 führte Hiemer sein Werk in der Turnhalle Stiefenhof­en vor. „Um acht Uhr sollte der Film beginnen. Pfarrer Mader ließ meine Einladung unbeantwor­tet. Dafür ließ er in der Kirche nebenan erst einmal fünf Minuten die Glocken läuten“, erinnert sich Hiemer.

In all den Jahren hat der Regisseur vieles über Gabi in Erfahrung gebracht und doch bleibt manches noch unklar. „Auf die spannende Frage nach Gabis Vater gibt es bis heute keine eindeutige Antwort“, sagt Hiemer. Lotte Eckart hat seinen Namen nie genannt. Hiemer vermutet, dass es sich um einen Nicht-Juden handelt. Im Jahr 2008 kam erneut Bewegung in den Fall Gabi. Albert Eichmeier, damals Lehrer in Kempten, legte Hiemer bislang unbekannte­s Material vor. Hiemer stürzte sich erneut in die

Recherche. 2019 veröffentl­ichte er all seine Ergebnisse in dem Buch „Gabi (1937-1943): Geboren im Allgäu – ermordet in Auschwitz“.

Hiemer erinnert sich noch gut an ein Gespräch mit seiner Frau kurz nach der Buchvorste­llung. „Meine Frau sagte zu mir: Jetzt ist es endlich vorbei. Ich antwortete ihr: Nein, jetzt geht’s erst richtig los. Jetzt haben wir eine Basis, auf der wir aufbauen können.“Im selben Jahr noch konzipiert­e er mit der Kuratorin Regina Gropper die Wanderauss­tellung „Geliebte Gabi“, die an vielen Stationen im Allgäu Halt machte. Durch sie kam der Autor mit dem jetzigen Stiefenhof­ener Pfarrer Johann Mair in Kontakt.

Hiemer brachte eine Gedenktafe­l für Gabi wieder ins Gespräch. Mit Erfolg: „Es war gar keine Frage, dass die Tafel nach Stiefenhof­en gehört“, sagt Pfarrer Mair. Vor wenigen Wochen war es soweit: Die Tafel wurde an der östlichen Kirchenmau­er befestigt. Der ideale Ort, wie Pfarrer Mair findet. „Es ist ein schönes Gefühl, etwas zu vollenden, was vier Männer vor 35 Jahren angestoßen haben“, sagt Hiemer. Auch in Marktoberd­orf, dem Geburtsort von Gabi, soll ein Gedenkort entstehen. Auf dem Friedhof der St.-Martins-Kirche wird das Denkmal für verstorben­e Kriegsgefa­ngene erneuert. Im Zuge dessen soll auch Gabi ihren Platz bekommen. „Der Stadtrat hat zugestimmt – ohne Wenn und Aber“, sagt Bürgermeis­ter Wolfgang Hell. Als Student habe er den Film „Leni muss fort“gesehen. „Diese Geschichte kann man nicht vergessen. Sie zeigt die Komplexitä­t und Grausamkei­t des Systems der ethnischen Säuberung.“

In Block 5 der Gedenkstät­te in Auschwitz liegen Beweise für diese Grausamkei­t. Tausende Kilogramm Haare, Brillen und Koffer türmen sich auf. „An diesem Ort habe ich die größte Verbindung zu Gabi gespürt“, wird Martin Krick wenig später sagen. Doch hier, in diesem Raum, reichen Worte nicht aus. Losgelasse­n hat Krick Gabi an diesem Vormittag noch nicht. Sie ist immer noch da – begleitet ihn auf dem Weg über die Gleise, entlang des meterhohen Stacheldra­htzauns, vorbei an Holzbarack­en zum Krematoriu­m II, von dem heute nur noch Trümmer übrig sind. „Nie wieder“, sagt Krick bei diesem Anblick. „Nie wieder darf so etwas passieren.“

 ?? Fotos: Stefanie Gronostay, Anna Embritz/Archiv Hiemer ?? Martin Krick radelte von Stiefenhof­en im Allgäu 1300 Kilometer nach Auschwitz. Er fuhr im Gedenken an Gabi Schwarz, die dort ermordet wurde. Er sagt: „Ich erlebte den Luxus des Donauradwe­gs, während sie eingepferc­ht in einem Viehwaggon nach Auschwitz deportiert wurde.“
Fotos: Stefanie Gronostay, Anna Embritz/Archiv Hiemer Martin Krick radelte von Stiefenhof­en im Allgäu 1300 Kilometer nach Auschwitz. Er fuhr im Gedenken an Gabi Schwarz, die dort ermordet wurde. Er sagt: „Ich erlebte den Luxus des Donauradwe­gs, während sie eingepferc­ht in einem Viehwaggon nach Auschwitz deportiert wurde.“
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