Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals (58)
WIn die italienische Botschaft in Damaskus wird ein toter Kardinal eingeliefert. Was hatte der Mann aus Rom in Syrien zu schaffen? Kommissar Barudi wird mit dem Fall betraut, der ihn zu religiösen Fanatikern und einem muslimischen Wunderheiler führt. ir könnten seine Unterstützung gebrauchen.“
Die Frage löste Schweigen aus. Barudi und Schukri schauten sich an. „Elias“, hob Schukri dann mit belegter Stimme an, „ist leider vor drei Jahren bei einer Verfolgungsjagd verunglückt. Er war einem Bandenchef auf der Spur, der mehrere Menschen ermordet und noch weitere auf seiner Liste hatte. Unglückseligerweise fuhr Elias zu schnell, verlor in einer Kurve die Kontrolle über seinen Wagen, überschlug sich und krachte gegen einen Betonpfeiler.“
„Es war meine Schuld“, sagte Barudi. Seine Stimme brach, und er musste sich räuspern. „Ich hätte ihm nicht erlauben dürfen, an der Verfolgung teilzunehmen.“
„Hör bitte damit auf“, flehte Schukri. „Jedem von uns kann das passieren. Hast du ihm etwa gesagt, er soll die Schleudergefahr missachten?“
„Nein, aber ich habe einen der besten Männer verloren, mit dem ich in dreißig Jahren zusammengearbeitet habe. So eine Leidenschaft für Gerechtigkeit hat man selten gesehen“, sagte Barudi traurig.
„Das tut mir leid zu hören“, sagte Mancini. „Seine Studie über Wundertäter und Aberglaube ist wirklich sehr gut. Ich war überrascht zu lesen, dass schon die alten Ägypter und Griechen Tricks beherrschten, wie man Statuen und Bilder Blut weinen ließ. Aber dein Assistent hatte auch den Mut zuzugeben, dass es Fälle gibt, bei denen tatsächlich etwas Übernatürliches im Spiel sein muss.“
„Wie bitte, die alten Griechen?“, warf Schukri verwundert ein.
„Ja, und zwar bis zur Perfektion. Allein, was Heron von Alexandria geleistet hat, war unglaublich“, antwortetet Mancini.
„Heron von Alexandria? Nie gehört“, murmelte Schukri.
„Ich bis zu meinen letzten Recherchen auch nicht“, gab Mancini zu, „aber Mathematiker kennen den Mann, der wahrscheinlich im ersten Jahrhundert nach Christus in Ägypten gelebt und geforscht hat. Dreizehn Bücher hat er geschrieben, über Mathematik, Optik, Automaten, Hydraulik, Waffentechnik und Erdmessungen. Er hat Automaten erfunden, die Türen, ›durch die unsichtbare Hand der Götter‹ öffneten, sobald man ein Feuer für die Götter entzündete, das dann in einem versteckten Kessel ausreichend Dampf und damit Druck erzeugte. Er war der Erfinder der ersten Dampfmaschine der Menschheit, die damals allerdings nur als kurioses Spielzeug betrachtet wurde. Die Industrie war noch nicht so weit, Dampf für den Antrieb von Maschinen einzusetzen. Er jedoch hat die erste Windmaschine, die eine Orgel betätigte, entwickelt. Und zur Erheiterung der Zuschauer eben auch weinende Statuen, die salzige, blutfarbene Tränen weinten. Über ein einfaches System versteckter kleiner Kanülen wurde Druck aufgebaut und die Flüssigkeit in Bewegung gebracht.“
„Und hast du auch nach dem Wunder im Dom von Neapel gegoogelt?“, fragte Barudi seinen italienischen Kollegen.
„Nein, das habe ich vergessen. Aber vielleicht kann ich es jetzt nachholen“, schlug Mancini vor.
„Klar, komm mit. Der Computer
steht im Arbeitszimmer“, erwiderte Schukri. Mancini folgte ihm.
Als Schukri zurückkam, fragte er Barudi, was es mit diesem Wunder in Neapel auf sich habe, und Barudi erzählte ihm von dem angeblich erstarrten Blut in der geschlossenen Ampulle, das sich vor den Augen der Gläubigen verflüssigte. Schukri schüttelte den Kopf.
Keine fünf Minuten später kehrte Mancini mit einem Zettel in der Hand zurück.
„Die Mischung in der Ampulle“, sagte er noch im Stehen, „besteht aus Eisen(III)-chlorid, das als Mineral Molysit in der Natur vorkommt, dazu nimmt man Kalziumcarbonat, das ist Marmorpulver, oder Eierschalen und etwas Tafelsalz und noch ein paar Tropfen Wasser. Fertig ist die Suppe! Solange es kalt ist, sieht es wie getrocknetes Blut aus, ab neunundzwanzig Grad jedoch verflüssigt sich das Pulver zu einer dicken roten Flüssigkeit. Simpler geht ein Betrug kaum.“
Mancini nahm einen Schluck Wein, aber noch bevor er sich setzen konnte, fragte Barudi: „Und hast du auch das kleine blaue Büchlein über die Wunderheilerin Dumia gelesen?“Als er Schukris Miene sah, fuhr er fort: „Vor einigen Jahren hat einer unserer Mitarbeiter ein paar Exemplare angeschleppt. Er ist bis heute absolut überzeugt von ihr.“
„Ja, ein absurdes, aber aufschlussreiches Buch. Es half mir, einige Fragen zu formulieren. Hast du es denn auch gelesen?“, fragte Mancini zurück.
„Ja, und ich musste viel lachen, als ich über diese mediengeile Dumia gelesen habe“, antwortete Barudi. „Sie ist für mich eine Karikatur des Glaubens. Sie selbst ist ziemlich primitiv, hat aber im Bischof und im Pfarrer zwei beredte Fürsprecher gefunden oder Paten, wie die Leute respektvoll sagen. Für mich sind sie Paten nach sizilianischer Art. Sie wollen die Leute mit allerlei Tricks und angeblichen Gesprächen mit der heiligen Maria einlullen, als hätte die heilige Maria nichts anderes zu tun, als ausgerechnet mit dieser Dumia zu reden. Aber wie dem auch sei. Jahrzehntelang war Damaskus im Aufschwung und hatte solche Taschenspielertricks nicht nötig. Erst die Krise vor dreißig Jahren belebte das Geschäft neu.
Auf dem Land gibt es solche Gauner seit über fünfzig Jahren. Bittere Armut und Analphabetismus machen die Leute abergläubisch. Sie suchten Halt. Ich habe selbst als Kind von zehn, elf Jahren in unserem armseligen christlichen Dorf im Süden solche Scharlatane erlebt. Nie werde ich vergessen, wie meine Tante für viel Geld das heilige Öl gekauft hat. Ein kleines Fläschchen mit einem in Olivenöl getränkten Wattebausch für drei Lira. Sie war so arm wie wir. Drei Lira! Das war damals der Tageslohn ihres Mannes, aber sie erhoffte sich von dem Öl alles. Es sollte Krankheiten heilen, Unheil abwenden und magische Kraft verleihen. Meine Mutter lachte sie aus.
Ich war sehr gläubig und betete zur heiligen Maria. Und eines Tages ging ich zu meiner Tante und bat sie, meine Hände mit dem heiligen Öl zu betupfen, damit sie Kraft bekämen. Einmal, nur einmal wollte ich meinen Rivalen Butros zu Boden werfen. Butros schlug mich, wann immer er konnte. Er war gleich alt, aber zweimal so groß wie ich. Ich hatte immer fürchterliche Angst, aus dem Haus zu gehen, weil ich fürchtete, dass er mir auflauerte. An jenem Tag aber steuerte ich erhobenen Hauptes auf Butros zu, packte ihn mit beiden Händen am Kragen und rief: ,O heilige Maria steh mir bei‘. Ich wollte Butros zu Boden werfen und ihm meinen lange vorbereiteten Satz zurufen: ,Jetzt kannst du Staub fressen‘, doch Butros war ein Berg aus Fleisch und ließ sich überhaupt nicht einschüchtern.
»59. Fortsetzung folgt