Der Mensch hinter der Maske
Lilo Wanders ist die Aufklärerin der Nation. Und eine Kunstfigur. Travestiekünstler Ernie Reinhardt hat sie erschaffen. Hier spricht er über seine zwei Leben als Mann und Frau
Hamburg Was hätte aus Ernie Reinhardt auf der Leinwand und der Theaterbühne nicht alles werden können – „Tatort“-Kommissar, ruppiger Schurke, liebevoller Vater, euphorischer Liebhaber. Stattdessen aber war der gebürtige Niedersachse schnell auf genau eine Rolle festgelegt: auf die der Diva und SexAufklärerin Lilo Wanders. Sie wurde zur Rolle seines Lebens – „und das ist Fluch und Segen zugleich“, sagt Reinhardt im großen Interview in Hamburg. An diesem Dienstag wird er 65 Jahre alt.
Seine berühmteste Rolle hat ihm das Rampenlicht und damit das Leben auf einem großzügigen Bauernhof im Alten Land ermöglicht. Dort wohnt er mit seiner Frau, zwei Katzen und einem Hund. Das Paar hat zwei Söhne und eine Tochter. Seit 1985 ist der Travestiekünstler mit Ehefrau Brigitte verheiratet – obwohl er sich als 16-Jähriger als homosexuell geoutet hat. Das bringt das klassische Familienbild ins Wanken – und verdeutlicht besser als alles andere die Botschaft des Jubilars und seiner Kunstfigur: „Die Liebe macht alles möglich, tatsächlich. Es gibt so viel mehr Möglichkeiten, als man uns früher weismachen wollte.“Doch die Figur der Lilo Wanders hat den Travestiekünstler auch eingeengt. „Es ist auch ein Fluch, weil man mir nie mehr zugetraut hat.“Für öffentliche Interviews und Auftritte schlüpft er meist in die Rolle seiner 1984 geschaffenen Kunstfigur. Freizeit und Arbeit zu trennen, war Reinhardt immer wichtig.
Jenseits des Fernsehfilms hat Reinhardt viele Spuren hinterlassen. Als Mitbegründer des Schmidt Theaters auf der Reeperbahn 1988 erschuf er mit Corny Littmann und zwei weiteren Teilhabern ein legendäres Stück Kultur in der Hansestadt. Für das Theater hatte er dann auch Wanders erfunden – inspiriert durch die Schauspielerin und Diva Evelyn Künneke.
Die elegante, näselnde Lilo Wanders kam nicht nur in der SchwulenSzene gut an. Die „Schmidt Mitternachtsshow“wurde später auch im Norddeutschen Rundfunk ausgestrahlt und Travestiekünstlerin Lilo Wanders bekam bald darauf das Angebot für die Vox-Sendung „Wa(h)re Liebe“. Die sollte sie weltweit bekannt machen. Zehn Jahre lang sprach Wanders ab 1994 über Themen wie Orgasmen, Pornos, Swingerclubs, Erotikmessen, Liebe und Co.
750 Millionen Mal wurde das Format über die Zeit eingeschaltet. Für die meisten Zuschauer gibt es keinen Ernie Reinhardt, sondern nur seine Kunstfigur. „Für die 545 Sendungen wurden mir 353 Kostüme auf den Leib geschneidert“, sagt Reinhardt alias Lilo Wanders heute. Durch die Sendung wurde Wanders zur „Aufklärerin der Nation“und „Frauenversteherin“, wie die Medien sie immer wieder nannten. „Ist das nicht absurd? Ich stehe auf der Bühne und erzähle, wie Frauen fühlen und was da körperlich vor sich geht. Und die Männer wissen es meistens gar nicht.“
Viele bekannte Namen der Travestieund Theaterszene sind Weggefährten. Sie schätzen Lilo Wanders – und die reale Person hinter der Maske. Theatermacher Littmann sagt heute: „Sowohl zu ihren Zeiten im Schmidt Theater, als auch als Gastgeberin einer Sex-Talkshow war Lilo die erste regelmäßige Männerstimme in schillernden Frauengewändern im deutschen Fernsehen.“Das Besondere an ihr sei, dass sich hinter der bunten Fassade der Travestie ein sensibles, riesengroßes
Herz verberge. Auch Olivia Jones schätzt den trockenen Humor und das große Herz ihrer Kollegin und Entdeckerin. Sie sei ihr immer ein Vorbild gewesen. Lilo Wanders sei wegweisend gewesen in Sachen Aufklärung und habe dafür gesorgt, dass die Gesellschaft selbstverständlicher mit Sexualität und dem eigenen Körper umgeht. „Ich bin ihr sehr dankbar für das, was sie für Dragqueens und Travestiekünstler gemacht hat.“Als Aufklärerin arbeitet Wanders noch immer auf der Theaterbühne – auch wenn Corona da gerade eine Pause nötig macht. Von Rente oder Ruhestand will Travestiekünstler Reinhardt erstmal noch nichts wissen. Lilo Wanders wird also weiterhin im Sommer als Stadtführerin der Olivia-JonesFamilie durch den Kiez touren, Theater spielen und solo bundesweit auftreten.
Reinhardt mag sein Leben. Seins und das als Lilo Wanders. „Ich hab die ganze Welt gesehen. Wenn ich auf mein Leben gucke, kann ich sagen: Es war alles richtig. Es war bisher ein tolles Leben.“Feiern will er das bei Kaffee und Kuchen in einem kleinen Café in Hamburg.
Christiane Bosch, dpa