Politischer Sprengstoff
Vor 40 Jahren erschütterte das Oktoberfestattentat die Republik. Jahrzehntelang wurde es als Tat eines frustrierten jungen Mannes abgetan. Doch der Anschlag war ein rechtsextremistischer Terrorakt. Das bestätigen neue Untersuchungen. Ein Augsburger Ermitt
Es ist, als würde die Zeit stillstehen. Als wäre das Leben eingefroren, eine Sekunde, bevor eine zerstörerische Explosion alles verändern wird. Man sieht Gundolf Köhler, wie er sich vor dem Haupteingang des Oktoberfests über einen Mülleimer beugt. Man weiß, dass Köhler dort eine Bombe deponiert. Dass sie den Mülleimer zerfetzen und zwölf Menschen in den Tod reißen wird, dass mehr als 200 Menschen teils schwer verletzt werden. Es ist der 26. September 1980, ein Freitag, 22.19 Uhr. Der bis heute schwerste Sprengstoffanschlag in der Geschichte der Bundesrepublik steht unmittelbar bevor.
40 Jahre sind seit dem Oktoberfestattentat vergangen. Im Landeskriminalamt können die Ermittler die Zeit um genau diese 40 Jahre zurückdrehen. Sie können sich den Tatort anschauen, wie er unmittelbar vor der Explosion ausgesehen haben muss. Fachleute haben ihn virtuell nachgebaut. Mit einer sogenannten VR-Brille kann man sich durch das Modell bewegen. Die Ermittler besorgten alte Stadtpläne, Aufstellpläne der Schaustellerbuden, werteten Fotos aus und recherchierten, welche Leuchtkraft die Straßenlaternen hatten. Sechs Wochen brauchten die Computer, um das Modell zu berechnen.
Kriminaldirektor Peter Jaud, 50, hat sich immer wieder die Brille aufgesetzt und so den Tatort besucht. „Das ist beklemmend“, sagt er. Die Menschen, die sich damals am Ort des Grauens aufgehalten haben, sind in dem Modell zwar nur als graue Umrisse mit Nummern drauf zu sehen. Doch Jaud kennt ihre Schicksale. Die Geschwister, sechs und sieben Jahre alt, die in der Nähe des Abfalleimers stehen, werden sterben. Ein Mann, 17, wird beide Beine verlieren. Seine Freundin, sie waren frisch verliebt übers Fest gezogen, wird das Attentat nicht überleben.
Jaud war der Chef der Sonderkommission, die in den vergangenen Jahren den Fall neu aufgerollt hat. 20 Beamte gehörten der 2015 gegründeten Soko mit Namen „26. September“an. Die Ermittler sollten klären, ob der Attentäter, der durch seine eigene Bombe starb, wirklich ein Einzeltäter war. So, wie es eine erste Soko festgestellt hatte. Und sie sollten noch mal der Frage nachgehen, warum der 21-jährige Geologiestudent aus dem badischen Donaueschingen das Verbrechen begangen hat. Der erste Abschlussbericht hatte das Bild eines an Liebeskummer leidenden jungen Mannes gezeichnet, der auch noch durch eine Prüfung zum Vordiplom gefallen war. Aus Frust habe er die verheerende Tat begangen, hielten die damaligen Ermittler des LKA fest – ein halbes Jahr nach dem Anschlag.
Das Ermittlungsergebnis stand damals erstaunlich schnell fest, und es wurden wichtige Umstände nur wenig gewürdigt. Köhler hatte ein Hitlerbild über seinem Bett hängen. Er hatte zweimal bei der rechtsextremen Wehrsportgruppe Hoffmann trainiert. Die Truppe, die Waffen sammelte, junge Männer in deutWäldern paramilitärisch ausbildete und einen Führerstaat anstrebte, war im Jahr des Anschlags verboten worden. Köhler wollte eine eigene Wehrsportgruppe in Donaueschingen aufbauen. Er hatte eine stramm rechte Gesinnung. Aber das Attentat soll nur die Tat eines unglücklich verliebten jungen Mannes gewesen sein?
Es ist eine der vielen Merkwürdigkeiten. Eine andere: Das Oktoberfest ging am Tag nach dem Attentat einfach weiter. Der Krater, den die Bombe gerissen hatte, wurde über Nacht frisch geteert. Knapp 13 Stunden nach der Tat feierten und soffen wieder Gäste auf der Wiesn, während Ärzte in den Kliniken um das Leben von Verletzten rangen.
Schon zwei Jahre nach dem Anschlag stellte der Generalbundesanwalt die Ermittlungen ein. Viele Beweisstücke waren bereits 1981 vernichtet worden, darunter mehr als 40 Zigarettenstummel aus dem Auto des Täters. Von einer DNA-Analyse hatte noch kein Mensch etwas gehört. Es war eine andere Zeit. Eine, in der rechtsextremistischen Umtrieben nicht so viel Bedeutung beigemessen wurde. Der Staat steckte in einem Krieg gegen die linksextreme RAF. Das war das Thema der Stunde. Ministerpräsident Franz Josef Strauß (CSU) lästerte über Organisationen wie die Wehrsportgruppe Hoffmann. Man solle Hoffmann doch „in Ruhe lassen“, wenn er „sich vergnügen will, indem er am Sonntag auf dem Land mit einem Rucksack und einem (...) ,battledress‘ spazieren geht“, sagte Strauß.
Kriminaldirektor Jaud schnauft tief durch, wenn man ihn darauf anspricht. In seinem Münchner Büro hängt vieles, was an die Soko „26. September“erinnert. Ein Originalplakat vom Oktoberfest 1980, das einen als Maßkrug gestalteten Luftballon zeigt. Daneben ein Luftbild der Festwiese, wenige Tage nach der Tat. Die Soko zum Oktoberfest-attentat ist Jauds größter und heikelster Fall. Angefangen hat er als Streifenpolizist in Augsburg, wo er bis heute wohnt. Nun leitet er das Dezernat 63 beim LKA, das für „Operative Spezialeinheiten“zuständig ist. „Die Kollegen von damals haben nicht schlecht gearbeitet“, sagt er. Es ist ihm wichtig, das zu erwähnen. Schließlich war viel von Pannen, Fehlern und angeblicher Vertuschung die Rede. Es sei nicht die Aufgabe der neuen Soko gewesen, die Arbeit der früheren Ermittler zu bewerten, sagt Jaud. Aber natürlich ging es darum, alles auf den Prüfstand zu stellen, neu zu interpretieren und Versäumtes nachzuholen. Aber wo anfangen? 1997 wurden auf Weisung des Generalbundesanwalts weitere Asservate vernichtet, weil der Fall als geklärt galt. Es gab so gut wie nichts mehr an Beweisstücken zu untersuchen. Die Hauptarbeit bestand deshalb darin, Akten zu wälzen und Zeugen zu vernehmen. Jaud und seine Kollegen – IT-Experten, Staatsschützer, Sprengstoff-Fachleute und erfahrene Vernehmungsexperten – wühlten sich durch rund 300000 Blatt an Dokumenten. Sie haben sich alles besorgt, was es gab: die alten Ermittlungsakten, die Erkenntnisse der Geheimdienste, Dokumente der DDR-Staatssicherheit.
Und sie haben mehr als 1000 Zeugen und mögliche Verdächtige befragt, sie flogen dafür in die USA. Auf einmal war da nicht mehr nur ein vergilbtes Blatt Papier, eine alte Akte, sondern ein Mensch, der berichtete, wie ihm Köhlers Bombe die Beine so zerfetzte, dass sie nach und nach komplett amputiert werden mussten. Da waren Menschen, die schwer verletzt wurden und anboten, sich die restlichen Splitter der Bombe aus dem Körper operieren zu lassen, wenn dies den neuen Ermittlungen dienlich wäre. Und da war Robert Höckmayr, der durch den Anschlag letztlich vier Geschwister verlor. Höckmayr ist im September 1980 zwölf Jahre alt. „Ich bin noch gelaufen, aber ich habe meinen Körper nicht mehr gespürt“, erinnert er sich. Um ihn „ein Trümmerfeld“mit menschlichen Körpern und zerfetzten Kleidungsstücken. Er und seine Geschwister wollen Papier und Zuckerwattestäbe wegwerfen, als die Bombe explodiert. 1,39 Kilo TNT. Schrauben und Nägel erhöhen die
Zerstörungskraft. Zwei Geschwister, sechs und sieben Jahre alt, sterben. Die Eltern und zwei weitere Geschwister überleben. Doch die Schwester und der Bruder können laut Höckmayr die Folgen des Attentats nicht verarbeiten, sie begehen Suizid. Das Attentat hat ihn fürs Leben gezeichnet. 42 Mal wurde er operiert, noch immer trägt er Splitter im Körper.
Der Wiesn-Anschlag ist auch das Lebensthema von Werner Dietrich. Der Anwalt vertritt bis heute 16 Opfer. Er war es – mit dem Journalisten Ulrich Chaussy –, der sich viele Jahre für eine Wiederaufnahme des Verfahrens eingesetzt hatte. Und er war es, der auf Pannen in den alten Ermittlungen hingewiesen hat. 504 Asservate sind laut Dietrich vernichtet worden, begründet mit Platzmangel. Dietrich und Chaussy benannten neue Zeugen. Was sie berichteten, lässt Zweifel aufkommen am offizielschen len Ermittlungsergebnis. An der Theorie vom Einzeltäter. Eine Frau schilderte, sie habe kurz vor der Explosion zwei streitende Männer am Abfalleimer gesehen. Dann ist da die abgerissene Hand, die am Tatort gefunden wurde und später verschwand. All das wirft Fragen auf. Ist es die Hand eines Mittäters? Hatte Köhler Helfer aus der rechten Szene? Und wurde das vertuscht, weil es nicht sein durfte, kurz vor der Bundestagswahl?
Wer glaubte, die neue Soko würde spektakuläre Neuigkeiten zutage fördern, einen Skandal bis in höchste Kreise, wird enttäuscht. Jaud und seine Kollegen kommen in einem entscheidenden Punkt zum selben Ergebnis wie die Ermittler vier Jahrzehnte zuvor. Auch sie gehen davon aus, dass Köhler allein handelte. Den Streit am Abfalleimer gab es wohl wirklich, aber es war ein anderer Eimer in der Nähe. Die Hand, davon gehen auch sie aus, gehörte dem Attentäter. Vermutlich wurde sie mit Köhlers Leiche verbrannt. Anfang Juli teilt der Generalbundesanwalt mit, dass das Verfahren erneut eingestellt werde. Weitere Ermittlungsansätze gebe es nicht.
Es gibt aber auch eine wichtige neue Einschätzung. Die Ermittler kommen jetzt zu dem Ergebnis, dass der Attentäter sehr wohl angetrieben war von seiner rechten Gesinnung. Zwei Freunden hatte er gesagt, man könne durch einen Bombenanschlag auf das Oktoberfest die bevorstehende Bundestagswahl beeinflussen. Sie hatten jedoch nicht geglaubt, dass er die Idee umsetzen würde. Dass die Tat nun als Terrorakt eingestuft wird, ist für Opferanwalt Dietrich ein wichtiger Erfolg. Der Anwalt durfte die Akten der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe einsehen. Sein Fazit ist zweischneidig: Einerseits ist der Kritiker beeindruckt, wie unvoreingenommen und mit welcher Tiefe neu ermittelt wurde. „Das ist ein Quantensprung im Vergleich zu den ersten Ermittlungen“, sagt Dietrich unserer Redaktion.
Andererseits kann er es kaum nachvollziehen, dass damals nicht weitere Strafverfahren in Gang kamen. Man habe Truppen wie die Wehrsportgruppe Hoffmann und deren Ziele genau gekannt – auch, weil sie mit V-Leuten stark unterwandert gewesen seien. Der Verfassungsschutz wusste, dass Rechtsextremisten Waffen sammeln, paramilitärisch trainieren und den Umsturz planen. Aber man hat dem Treiben kein Ende gesetzt. Warum? „Man wollte nicht öffentlich machen, dass es nur 35 Jahre nach dem Ende des Nazi–Regimes wieder rechtsextremistische Strukturen in Deutschland gibt“, denkt Dietrich.
Der Anwalt sagt: „Den Opfern kommt es vor allem darauf an, dass alles getan worden ist, um die Hintergründe aufzuklären.“In diesen Tagen ist ein Opfer noch mal zu Peter Jaud ins LKA gekommen. Der Mann, der schwerst verletzt worden ist, wollte noch einmal die VR-Brille aufsetzen, ein letztes Mal den virtuellen Tatort sehen. Jenen Moment, als die Bombe noch nicht explodiert war. Um damit abzuschließen und dann wieder zurückzukehren, zurück ins Leben, 40 Jahre danach.
„Die Kollegen haben nicht schlecht gearbeitet.“
Sokoleiter Peter Jaud