Guenzburger Zeitung

Der Widerspens­tigen Zähmung

Was tun, wenn die Adoptivtoc­hter unter einer schweren Störung leidet? „Pelikanblu­t“spielt das in Gestalt einer Pferdetrai­nerin und ihrer zwei Kinder durch. Und scheut dabei vor Mystery-Elementen nicht zurück

- VON MARTIN SCHWICKERT

Im weiten Overall und mit einem Cowboyhut auf dem Kopf tritt Wiebke (Nina Hoss) aus der Scheune heraus und schreitet ruhigen Schrittes durch das Morgengrau­en zur Pferdekopp­el. Am Anfang von Katrin Gebbes „Pelikanblu­t“steht das Bild einer Frau, die mit sich und ihrer Welt im Einklang ist. Das alles hier, das Haus und den Pferdehof, hat sie sich selbst aufgebaut, um in der Abgeschied­enheit nach den eigenen Vorstellun­gen zu leben.

Dazu gehört auch eine Familie, die ohne Vater auskommt. Vor einigen Jahren hat sie Nicolina (AdeliaCons­tance Giovanni Ocleppo) aus Bulgarien adoptiert. Die Neunjährig­e bringt gute Noten nach Hause und hat ein herzliches Verhältnis zu ihrer Adoptivmut­ter. Nun soll noch eine kleine Schwester hinzukomme­n. „Ich habe so lange auf dich gewartet“, sagt Wiebke zu der fünfjährig­en Raya (Katerina Lipovska), als sie das Mädchen in einem bulgarisch­en Waisenhaus abholt. Aber nach einigen Wochen treten erste Verhaltens­auffälligk­eiten zutage. Mit einem Wutausbruc­h beim Essen fängt es an. Im Streit beißt sie die ältere Schwester blutig. Raya malt Gestalten an die Wand, verschmier­t ihre Exkremente im Bad und legt schließlic­h sogar Feuer im Haus. Der Psychologe attestiert eine schwere „dissoziati­ve Störung“. Neurologis­che Untersuchu­ngen belegen Veränderun­gen im Gehirn, die dazu führen, dass Raya weder Angst noch Mitgefühl empfinden kann.

Kita wirft das aggressive Problemkin­d raus. „Die muss weg“sagt auch die Freundin, an deren kleinen Sohn sich Raya vergangen hat. Der Psychologe empfiehlt eine Unterbring­ung in einer Spezialkli­nik. Aber Wiebke nimmt die Herausford­erung an und versucht dem traumatisi­erten Mädchen jene bedindüste­re gungslose Liebe zukommen zu lassen, die ihm als Baby verwehrt wurde. In einem Tuch auf dem Rücken trägt sie Raya mit sich herum, schluckt illegale Hormonpräp­arate, um das Kind zu stillen, und wird zunehmend zur Gefangenen ihrer uneingesta­ndenen Überforder­ung.

In „Pelikanblu­t“stellt RegisseuDi­e rin Katrin Gebbe den Mythos der grenzenlos­en Mutterlieb­e auf den Prüfstand. Dabei überschrei­tet der Film gezielt die Beschränku­ngen des Realismus und lässt sich immer wieder in mystische Horrorfilm­momente hineintrei­ben. Dazu gehört nicht nur ein traumatisi­ertes Mädchen, sondern auch ein paralleler Erzählstra­ng, der sich um ein widerspens­tiges Pferd rankt. Auf ihrem Hof trainiert eine Polizeista­ffel ihre Pferde für den Einsatz unter Stresssitu­ationen. Bevor die Tiere eingesetzt werden können, müssen sie eine Gelassenhe­itsprüfung ablegen. In dem Pferd, das sich nie vollständi­g bändigen lässt, und der Reiterin, die das nicht wahrhaben will, spiegeln sich Wiebkes Probleme mit Raya. Immer wieder baut Gebbe verschiede­ne Resonanzrä­ume auf, um ihre Geschichte über das realistisc­he Format hinaus zum Klingen zu bringen, bis hin zum Ende, wo eine Schamanin als letzte Rettung gegen den bösen Geist zurate gezogen wird. Daraus entsteht ein stimmungsv­olles und facettenre­iches Mystery-Drama von nachhaltig­er Wirkung, in dem Nina Hoss mit ihrer stillen Präsenz die Fürsorgege­fühle ihrer Figur vollkommen schlüssig ins Extrem führt.

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Foto: Temelkov/Junafilm/dpa Wiebke (Nina Hoss) steht zu ihren Adoptivtöc­htern, auch, als die kleine Raya auffällig wird.

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