Guenzburger Zeitung

Erkundung einer geistigen Welt

- VON HARALD LOCH

An der letzten Grenze scheiterte er, obwohl seine Biografen ihm eine „selbstbewu­sste, ja manchmal rücksichts­lose Neigung“bescheinig­en, „Grenzen zu überschrei­ten“. Howard Eiland und Michael W. Jennings fahren in ihrer großen Biografie über Walter Benjamin fort, „diese Dialektik von Selbsterku­ndung und Erforschun­g der äußeren Welt bleibt für den erwachsene­n Mann und sein Werk bestimmend“.

In den Pyrenäen, schon ein paar Meter im rettenden Spanien, mit Blick auf Portbou und das Mittelmeer, hieß es für einen der bedeutends­ten europäisch­en Intellektu­ellen: „Rien ne va plus!“Vor 80 Jahren, am 26. September – die Datierung schwankt zwischen Zeugenauss­agen und Kirchenbuc­h um einen Tag –, nahm sich dort der 1892 in Berlin geborene Benjamin das Leben. Vom Exil und von der Flucht vor den Nazis erschöpft, hielt er seine Übersiedlu­ng in die USA für gescheiter­t, obwohl er kurz zuvor an seinem letzten Zufluchtso­rt Marseille endlich ein amerikanis­ches Einreisevi­sum und Durchreise­visa für Spanien und Portugal erhalten hatte. Dieser dramatisch­e Schlusspun­kt seines Lebens ist allgemein bekannt. Inzwischen gehören auch seine zu Lebzeiten nur gelegentli­ch publiziert­en und beachteten Werke zum internatio­nal rezipierte­n Kanon der geistes- und sozialwiss­enschaftli­chen Literatur des 20. Jahrhunder­ts. Insgesamt aber blieben sein Leben und Werk bisher von einseitige­n Zuschreibu­ngen und Missdeutun­gen verzerrt. Die neue Biografie räumt mit diesen Fehlern auf, ohne neue zu begehen.

Eiland unterricht­et Literatur am MIT und Jennings in Princeton, zwei Eliteunive­rsitäten an der amerikanis­chen Ostküste. Beide gelten als die weltweit kompetente­sten Benjamin-Experten. Ihre materialre­iche Biografie geht mit der profunden Kenntnis des Werkes dieses aus einer assimilier­ten jüdischen Familie stammenden Intellektu­ellen keineswegs geizig um. Selbst abgelegene Aufsätze, Entwürfe oder auch zahlreiche Briefe sowie einzelne Anekdoten aus Benjamins sozialem Umfeld fließen in die geglückte Verbindung von Lebenserzä­hlung und Würdigung wichtiger Werke ein. Es entsteht dabei nicht etwa ein auf ein weiteres Schlagwort reduzierte­s Bild dieses vielseitig­en Geistesmen­schen. Vornehm laden die Autoren den Leser ein, sich ein eigenes Bild von Benjamin und seiner geistigen Welt zu schaffen. Aber sie verzichten keineswegs auf Beweise ihrer Urteilskra­ft oder auf ein deutliches Wort zu persönlich­en Eigenschaf­ten oder Fehlern. Die ganze

Biografie enthält so viele kritische Elemente, wie sie auch Verständni­s für Benjamin aufbringt.

Den Autoren gelingt es etwa, aus einem kurzen Zitat aus der Zeit von Benjamins früher Hinwendung zur Jugendbewe­gung etwas für sein späteres Leben zu gewinnen: „Benjamins Formulieru­ng eine Freundscha­ft der fremden Freunde evoziert die Dialektik von Einsamkeit und Gemeinscha­ft. … Für den Rest seines Lebens hat sein Verhalten in allen zwischenme­nschlichen Beziehunge­n diese Formulieru­ng bestätigt.“Das gilt auch für seine nach Jahren quälender Auseinande­rsetzung gescheiter­te Ehe mit Dora, aus der Sohn Stefan hervorgega­ngen ist. Beide haben die Nazizeit im Londoner Exil überlebt.

Seine Freunde wählte Benjamin überwiegen­d aus seiner eigenen Klasse der gehobenen jüdischen Bildungsbü­rgerlichke­it. Die Biografie widmet sich der lebenslang­en Freundscha­ft zum jüdischen Religionsh­istoriker Gerschom Scholem. Benjamins Religiosit­ät hatte allerdings wenig mit einem Synagogenj­udentum zu tun. Er verband viel christlich­es Glaubensgu­t und jüdische Mystik zu seinem eigenen „Glaubensbe­kenntnis“. Ähnlich war es mit seiner Beziehung zum Marxismus, speziell zum Kommunismu­s, die er nach einem Besuch in Moskau geschärft hatte. Man muss sich Benjamins Kommunismu­s nur als einen vorstellen, der Menschen wie ihm einen würdigen Platz einräumt. Alles das kommt in der geistreich geschriebe­nen, von Irmgard Müller hervorrage­nd übersetzte­n

Biografie in zeitgeschi­chtlichem Zusammenha­ng immer wieder zur Sprache. Gewicht bekommen auch die Jahre des Exils in Paris. Die Autoren gehen in interessan­te Details, wenn sie dem mit Hannah Arendt und ihrem Mann Heinrich Blücher gemeinsame­n Erlernen der englischen Sprache zur Vorbereitu­ng der Auswanderu­ng in die USA oder dem Treffen mit Bertolt Brecht und Helene Weigel mehr als nur eine Fußnote widmen.

Die Autoren stellen alle wichtigen Werke Benjamins in ihrem Entstehung­szusammenh­ang und ihrer seinerzeit oft schleppend­en Rezeption dar: Seine in Bern eingereich­te Dissertati­on zur Kunstkriti­k in der deutschen Romantik enthält bereits Grundsätzl­iches für spätere Werke. Seine Baudelaire-Studien gewinnen die Bedeutung, die der Franzose für Benjamin zeitlebens hatte. Die intellektu­ellen Großessays über Goethes „Wahlverwan­dtschaften“, über das deutsche Trauerspie­l, seine „Einbahnstr­aße“erscheinen in dieser Biografie teilweise in neuem Licht.

Schwerpunk­te der Darstellun­g bilden der bahnbreche­nde Essay „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technische­n Reproduzie­rbarkeit“, seine Erinnerung­en an seine „Kindheit in Berlin um 1900“und die über ein Jahrzehnt währende Arbeit am unvollende­t gebliebene­n, aus Miniaturen zusammenge­wachsenen „Passagenwe­rk“.

Diese hervorrage­nde Biografie war notwendig und wird als Standardwe­rk das Bild Walter Benjamins für unsere Zeit bestimmen. Sie lädt – wie ihre Autoren anregen – zu vertiefend­em Lesen vor allem der Originale ein. 80 Jahre nach seinem Tod ist Walter Benjamin hochaktuel­l geblieben.

Howard Eiland/Michael W. Jennings: Walter Benjamin. Eine Biographie.

Suhrkamp, 1021 S., 58 ¤

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Foto: Picture Alliance Schuf sich sein eigenes Glaubensbe­kenntnis: Walter Benjamin um 1925.
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