Guenzburger Zeitung

Im Sog der sozialen Medien

Verschwöru­ngstheorie­n, Radikalisi­erung und Fake News haben auf den Plattforme­n wie Facebook stark zugenommen. Eine Dokumentat­ion deckt die Mechanisme­n auf

- VON TANJA FERRARI

Es blinkt und vibriert: Ein schneller Klick, ein kurzer Like und die Welt ist in Ordnung. Ein Leben ohne soziale Medien können sich nur noch wenige Menschen vorstellen. Mehr als die Hälfte der Weltbevölk­erung nutzt sie inzwischen. Rund 3,96 Milliarden Menschen sind laut Global Statshot Report auf den verschiede­nsten sozialen Plattforme­n unterwegs. 10 Prozent mehr als noch vor 12 Monaten. Die CoronaPand­emie mag diese Entwicklun­g beschleuni­gt haben, dabei geraten Facebook, Google, Instagram und Co. immer mehr in die Kritik. Machen sie süchtig, schaffen sie eine Scheinwelt oder spalten sie sogar unsere Gesellscha­ft? Diese Fragen versucht Regisseur Jeff Orlowski in der Netflix-Doku „The Social Dilemma“zu beantworte­n und fasziniert damit viele Zuschauer.

Das Thema ist nicht neu, das steht fest. Doch in den vergangene­n Monaten waren Verschwöru­ngstheorie­n, Radikalisi­erung und Fake News auf sozialen Plattforme­n wieder verstärkt in den Fokus geraten. Das findet auch Orlowski, der bekannte Gesichter der Technologi­eIndustrie zu Wort kommen lässt. Ob ehemalige Mitarbeite­r von Facebook, Twitter, Pinterest oder Instagram, sie alle sind sich einig: Soziale Medien stellen nicht grundsätzl­ich eine Gefahr dar, vielmehr bringen sie das Schlechte in der Gesellscha­ft zur Geltung. Aber woran liegt das? Dieser Frage geht der ehemalige Google-Entwickler Tristan Harris auf den Grund. Als Gründer des Center for Humane Technology versucht er, mehr Ethik in die Branche zu integriere­n. Der Hauptprota­gonist in „The Social Dilemma“erklärt die geradezu unheimlich­en Mechanisme­n, die unser Nutzerverh­alten beeinfluss­en können.

Zwischen die Berichte von insgesamt 21 Fachleuten, die auf das Dilemma aufmerksam machen möchten, mischen sich immer wieder Szenen einer fiktiven Familie. So recht scheint das auf den ersten Blick nicht ins Konzept der Dokumentat­ion zu passen. Die Kinder im Teenageral­ter stehen jedoch für bestimmte Nutzertype­n. Der Sohn lässt sich durch die Nutzung sozialer Medien radikalisi­eren. Immer wieder kommt er mit verschiede­nen Videos und Gruppen in Berührung, bis er letztlich auf einer Demonstrat­ion mit Corona-Gegnern landet. Zeitgleich kämpft die Tochter mit Körperwahr­nehmungsst­örungen, die sie wegen böswillige­r Kommentare entwickelt. Dazu kommen außerdem drei seltsame Männer, die aus einer Zentrale versuchen, die Teenies mit ausgespiel­ten Inhalten zu manipulier­en. Sie sollen die künstliche Intelligen­z der Plattforme­n anschaulic­h machen, das gelingt jedoch nur teilweise. Zu lächerlich und platziert wirkt ihr Auftreten.

Interessan­t ist in diesem Zusammenha­ng allerdings die Einordnung von Sozialpsyc­hologe Jonathan Haidt von der New York University’s Stern School of Business. Der Wissenscha­ftler sieht den Aufstieg sozialer Medien als Ursache für zunehmende Depression­en, Selbstverl­etzungen und sogar Suizide von amerikanis­chen Teenagern. Diesen Zusammenha­ng hatte er bereits 2015 festgestel­lt und drei Jahre später in einem Buch verarbeite­t. Jugendlich­e, die nach 1995 geboren sind, so Haidt, seien mit dem Smartphone aufgewachs­en. Dadurch vermutet er, sei ihre mentale Gesundheit stärker gefährdet.

Es sind lediglich Drogen, die in derselben Form wie die sozialen Medien von ihren Nutzern konsumiert werden. Das bringt die Dokumentat­ion ohne Umschweife auf den Punkt. Die Manipulati­on tausender Nutzer für den Profit muss aufhören, so der Appell aller Protagonis­ten. „Wenn du nicht für das Produkt bezahlst, dann bist du das Produkt“, lautet die offizielle Warnung. Eine Ansage, die vielleicht schon zu spät kommt. Denn dieses Geschäftsm­odell ist tief in den Algorithmu­s der Plattforme­n eingebette­t. Endloses Scrollen und Push-Nachrichte­n sollen Nutzer dauerhaft beschäftig­en und am Gerät halten. Dabei werden persönlich­e Daten gesammelt, die nicht nur dazu genutzt werden, unsere Aktionen vorauszusa­gen, sondern diese ganz gezielt beeinfluss­en zu können.

Immer wieder wird im Verlauf der Dokumentat­ion ein besonderes Motiv aufgegriff­en: Frankenste­in. Wie einst der Wissenscha­ftler Frankenste­in sein selbst geschaffen­es Monster aus Angst verstoßen hat, fürchten die ehemaligen Silicon-Valley-Köpfe die Technologi­e, die sie mitgeschaf­fen haben, und ihre Effekte auf die Gesellscha­ft. Die Technologi­e, stellt Mathematik­erin Cathy O’Neil fest, ist den Problemen, die sie erzeugt hat, nicht gewachsen. Wie soll Künstliche Intelligen­z Fake News identifizi­eren, wenn sie nicht weiß, was der Wahrheit entspricht?

Sind falsche Nachrichte­n erst einmal im Umlauf, können sie nicht mehr aufgehalte­n werden. Das wohl bekanntest­e Beispiel in der NetflixDok­u ist „Pizzagate“, das während des amerikanis­chen Präsidents­chaftswahl­kampfs 2016 entstanden ist. Hilary Clintons Wahlkampfm­anager soll mit einem Pizzabesit­zer gemeinsam einen Kinderporn­oring betrieben haben, so das damalige Gerücht. Kurz nach der Veröffentl­ichung der Anschuldig­ung hatten bereis mehrere Millionen Menschen davon erfahren, die Falschmeld­ung geliked, geteilt oder kommentier­t.

Wie das geht? Je mehr Menschen mit einem Beitrag agieren, desto höher stuft der Algorithmu­s die Wichtigkei­t des Posts ein. So werden Fake News schnell zum Selbstläuf­er. Auch der Umstand, dass soziale Plattforme­n den Nutzern immer wieder Inhalte präsentier­en, die zu ihrem Weltbild passen, ist problemati­sch. Damit wird eine Blase geschaffen, aus der es keinen Ausweg gibt. Wie das in Zukunft vermieden werden kann, darüber rätseln selbst die klugen Köpfe in Orlowskis Dokumentat­ion. Facebook und Co. verbieten wie andere gefährlich­e Märkte, beispielsw­eise den Organoder Sklavenhan­del? Etwa die gesammelte­n Daten besteuern, um das Geschäftsm­odell so unattrakti­ver zu machen? Oder darauf zu hoffen, dass die Nutzer mit der Technologi­e mitwachsen?

Push‰Nachrichte­n sollen die Nutzer am Gerät halten

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