Guenzburger Zeitung

Warum es in Georgia noch einmal um alles geht

Der Demokrat Joe Biden hat zwar die Wahl gegen den Republikan­er Donald Trump gewonnen. Doch ob er als Präsident wichtige Gesetzesvo­rhaben umsetzen oder eher wenig ausrichten kann, entscheide­t sich in einem einzigen Bundesstaa­t. Und der ist heftig umkämpft

- VON KARL DOEMENS

Augusta Normalerwe­ise ist der Regionalfl­ughafen von Augusta im Osten des US-Bundesstaa­tes Georgia kein Ort für wilde Träume. Draußen vor der Backsteinh­alle weht je nach Windrichtu­ng mal der faulige Geruch aus der nahe gelegenen Papiermühl­e und mal der Gestank aus der ortsansäss­igen Fleischver­arbeitungs­fabrik herüber. Zwölf Mal am Tag hebt von der Rollbahn eine kleine Maschine gen Atlanta oder Dallas ab.

An jenem Donnerstag aber wirkt der Airport wie der Fluchtpunk­t einer bizarren Sekte. Am Nachmittag wird hier Donald Trumps Stellvertr­eter Mike Pence einschwebe­n, und die Menschen in der Schlange erwarten nichts Geringeres als die Verkündung einer politische­n Auferstehu­ng.

„Ich bin hier, um unseren rechtmäßig gewählten Präsidente­n zu unterstütz­en“, sagt ein Mittfünfzi­ger mit Baseball-Kappe, der sich „Gerry“nennt und seinen Nachnamen nicht verraten will: „Das hier ist Amerika. Hier bestimmt das Volk, wer ins Weiße Haus einzieht.“Und das könne keinesfall­s Joe Biden sein: „Der ist eine chinesisch­e Marionette!“

Sechs Wochen liegt die Präsidents­chaftswahl zurück. Der eindeutige Sieg von Biden ist vielfach beglaubigt. Doch Trumps Hardcore-Fans wollen sich damit nicht abfinden. „Trump hat die Wahl ganz klar gewonnen“, behauptet ein schmächtig­er junger Kerl, der auf Nachfragen höchst gereizt reagiert. Er und andere Trump-Unterstütz­er haben sich in eine Art Wahn hineingest­eigert – die Wahl sei „gestohlen“worden. Aber komplett zufrieden sind auch die gegnerisch­en Demokraten nicht: Bei den Kongresswa­hlen haben sie nämlich wesentlich schlechter abgeschnit­ten als erwartet. Nicht nur gingen viele Sitze im Repräsenta­ntenhaus verloren. Vor allem konnte die republikan­ische Mehrheit im wichtigen Senat nicht gebrochen werden – noch nicht.

Denn nun bietet sich für die einen die Chance zu einer Revanche und für die anderen zum entscheide­nden Punktsieg in der Nachspielz­eit: Am 5. Januar wird im Bundesstaa­t Georgia bei einer Stichwahl über zwei bislang republikan­ische Senatsplät­ze in Washington entschiede­n, bereits jetzt können Stimmen abgegeben werden. Die politische­n Konsequenz­en des dramatisch­en Showdowns könnten größer kaum sein.

Setzen sich die demokratis­chen Kandidaten durch, gibt es im Senat ein Patt, und die künftige Vizepräsid­entin Kamala Harris wird zum Zünglein an der Waage. Dann hätte Biden eine Chance, wichtige Gesetzesvo­rhaben wie sein Klima-Investitio­nsprogramm oder eine Unternehme­nsteuererh­öhung durchzubek­ommen.

Gelingt es den Republikan­ern jedoch, auch nur eines der Mandate zu verteidige­n, steht der neue Präsident einer Blockademe­hrheit gegenüber und dürfte bald ausgebrems­t werden. „Es geht nicht nur um Georgia“, hat der demokratis­che Ex-Präsident Barack Obama in einer Video-Botschaft gemahnt: „Es geht um Amerika und um die Welt.“

Entspreche­nd groß sind das öffentlich­e Interesse und der finanziell­e Einsatz bei dieser Regionalwa­hl. Kein Fernsehzus­chauer im selbst ernannten „Pfirsich-Staat“entgeht der dramatisch­en Finalschla­cht. Schwindele­rregende 280 Millionen Dollar haben Republikan­er und Demokraten schon in TVSpots investiert. Experten schätzen, dass der Betrag noch auf eine halbe Milliarde Dollar wachsen dürfte. Pausenlos braust die Politpromi­nenz zu Auftritten durchs Land. Präsident Trump war hier, sein Nachfolger Biden ebenfalls.

Um die zur Wahl stehenden Kandidaten geht es im republikan­ischen Lager eher am Rande. Weder Kelly Loeffler noch David Perdue sind Sympathiet­räger. Beide argumentie­ren stramm rechts, sind extrem vermögend und stehen im Verdacht, Insiderwis­sen aus dem Senat für private Aktiengesc­häfte genutzt zu haben. Vorsichtsh­alber erschien Perdue erst gar nicht zur Fernsehdeb­atte. Loeffler stellte sich zwar den Fragen, machte mit stanzenhaf­ten Antworten und der permanente­n Titulierun­g ihres Kontrahent­en als „Linksextre­misten“aber einen roboterhaf­ten Eindruck.

Doch das stört die Basis nicht. „Wir müssen unbedingt die Kontrolle im Senat behalten“, meint James Cole. Der 52-jährige Security-Mann steht in der Schlange zur Pence-Kundgebung in Augusta. Stolz trägt er ein Trump-Käppi und ein T-Shirt mit dem Aufdruck: „With Honor I Served“(Ich habe mit Ehre gedient). Nun sieht er einen republikan­ischen Senat als Bollwerk gegen den Feind im Inneren. „Nur so können wir verhindern, dass Biden den Sozialismu­s einführt, falls sie ihn wirklich installier­en.“

Freilich muss die republikan­ische Basis einige Widersprüc­he verarbeite­n: So soll sie bei der Stichwahl erneut zur Urne gehen, obwohl doch die Präsidente­nwahl in Georgia angeblich manipulier­t wurde. Ausdrückli­ch hat Trump die Schuld für seine demütigend­e Niederlage im konservati­ven Südstaat dessen republikan­ischem Gouverneur und dem zuständige­n Staatsmini­ster zugeschobe­n. Weil Minister Brad Raffensper­ger nach drei Auszählung­en mit jeweils 12000 Stimmen Vorsprung für Biden dessen Sieg nicht annulliere­n wollte, beschimpft­e ihn der Präsident als „Feind des Volkes“. Seither tobt in der Partei ein regelrecht­er Krieg. Loeffler und Perdue haben groteskerw­eise eine Klage gegen das eigene Wahlergebn­is in Georgia unterstütz­t. Doch selbst dieses Chaos kann James Cole nicht erschütter­n: Den ultrarecht­en Gouverneur erklärt er kurzerhand zum „Trump-Hasser“, der für das korrupte Establishm­ent kämpfe und einen offensicht­lichen Wahlbetrug vertusche. Cole zeigt sich entschloss­en, und nicht nur er.

Auf eine Demobilisi­erung frustriert­er Republikan­er wollen sich die Demokraten und ihre Unterstütz­er dann auch nicht verlassen. An einem sonnigen, kalten Dezembermo­rgen treten an der Auburn Avenue im schwarzen Herzen von Atlanta ein halbes Dutzend Bürgerrech­tsaktivist­en, Anwälte und Kirchenleu­te vor die Kameras. Sie verkörpern eine bunte Allianz, die getreu dem Motto des toten Bürgerrech­tlers John Lewis für „good trouble“(etwa: guten Ärger) sorgen will. Sie verstehen darunter: die Aufklärung der afroamerik­anischen Wähler, ihre Mobilisier­ung bis hin zur Einrichtun­g von Fahrdienst­en zum Wahllokal sowie den Kampf gegen jede Wahlbehind­erung. „Wir ziehen von Tür zu Tür, um den Menschen zu erklären: Ihr müsst noch einmal wählen“, erzählt Helen Butler. Die Chefin der offiziell überpartei­lichen „Coalition for the Peoples’ Agenda“ist eine Veteranin im Kampf für die Rechte der Afroamerik­aner, die mehr als 30 Prozent der Bevölkerun­g von Georgia ausmachen. Trumps Kampagne zur Delegitimi­erung der Briefwahle­n hat aus ihrer Sicht einen eindeutig rassistisc­hen Hintergrun­d: „Früher haben nicht die Afroamerik­aner, sondern vor allem die Weißen die Briefwahl genutzt. Da war das nie ein Problem. Jetzt, wo viele Schwarze aus Sorge vor einer Covid-19-Ansteckung die Briefwahl nutzen, wollen sie auf einmal die Regeln ändern.“

Alarmiert ist Butler zudem durch aktuelle Berichte, dass die Regierung die Anzahl der Wahllokale und Stimmzette­l-Boxen in überwiegen­d schwarzen Wohngebiet­en reduziert. „Das ist sehr beunruhige­nd“, warnt auch Methodiste­n-Bischof Reginald Jackson bei dem Auftritt der Bürgerrech­tler: „Nichts geschieht in diesem Bundesstaa­t zufällig.“Tatsächlic­h scheint die Gefahr der Behinderun­g von schwarzen Wählern in Georgia wesentlich realer als die der Manipulati­on zuungunste­n des Trump-Lagers. Die Unterdrück­ung schwarzer Stimmen hat im Süden der USA eine lange Tradition, stundenlan­ge Warteschla­ngen am Wahltag gehören zum Alltag.

Solche Gängeleien könnten durch ein modernes Wahlgesetz beendet werden, das derzeit aber an der republikan­ischen Mehrheit im Washington­er Senat scheitert. Deshalb argumentie­rt Jackson zugespitzt: „Es ist mindestens so wichtig, wer uns im Senat vertritt, wie wer im Weißen Haus das Sagen hat.“

Der Kontrast zwischen den beiden demokratis­chen Kandidaten und den republikan­ischen Amtsinhabe­rn könnte kaum größer sein: Raphael Warnock hat als Pastor an der traditions­reichen Ebenizer Baptist Church ein paar hundert Meter weiter auf der Auburn Avenue gewirkt, wo einst Martin Luther King predigte. Der 51-Jährige wäre der erste afroamerik­anische Senator aus Georgia. Sein Kollege Jon Ossoff stammt aus einer australisc­h-russischen Einwandere­rfamilie, besitzt einen Abschluss der renommiert­en London School of Economics und hat als investigat­iver Filmemache­r gearbeitet. Der 33-Jährige mit großem rhetorisch­en Talent und sympathisc­hem Auftritt gilt als bundesweit­e Nachwuchsh­offnung der Demokraten. Mit seinen typisch hochgekrem­pelten Hemdsärmel­n steht er am nächsten Tag in Macon, rund anderthalb Autostunde­n südlich von Atlanta, auf einer improvisie­rten Bühne. „Sie haben sich vielleicht gefragt, was Sie in den vergangene­n Wochen gefühlt und in den letzten vier Jahren vermisst haben“, ruft er seinen Zuhörern zu: „Es nennt sich Hoffnung!“Die Szenerie spiegelt die Umstände der Corona-Pandemie wider: Als Veranstalt­ungsort wurde der Parkplatz der örtlichen Mehrzwecka­rena gewählt. Viele Zuhörer bleiben in ihren Autos.

Ossoff spricht über ein dringendes Hilfspaket wegen der Pandemie,

Trump‰Fan Cole fürchtet sich vor dem Sozialismu­s

Biden‰Wählerin Maxwell fürchtet um die Demokratie

über eine bessere Gesundheit­sversorgun­g und über Rassengere­chtigkeit. Das, betont er, könne der neue Präsident Joe Biden nur mit den Stimmen aus Georgia umsetzen: „Sonst werden das die Republikan­er alles blockieren.“

Shekita Maxwell muss nicht mehr überzeugt werden. Die 39-Jährige steht in der dritten Reihe neben ihrem weißen Toyota und hält ein Plakat mit dem Slogan „Health. Jobs. Justice“(Gesundheit, Arbeitsplä­tze, Gerechtigk­eit) hoch. „Georgia ist demokratis­ch und wird es auch bleiben“, ist die Verwaltung­sangestell­te überzeugt. Von Trump und den Republikan­ern hat sie gehörig die Nase voll. „Wir dürfen uns nicht weiter spalten lassen“, sagt sie.

Zwei Stunden hat Maxwell im November in der Schlange gestanden, um ihre Stimme für Joe Biden abzugeben. Auch dieses Mal will die Afroamerik­anerin keine Briefwahl beantragen. Am 5. Januar wird sie sich wieder vor ihrem Wahllokal anstellen. Sicher ist sicher. „Es geht um unsere Demokratie“, sagt sie entschiede­n. „Dafür kann man schon ein kleines Opfer bringen.“

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Fotos: Imago Images; Doemens (2) Jon Ossoff von den Demokraten kürzlich bei einer Veranstalt­ung in Macon, Georgia. In dem Bundesstaa­t können Wähler seit Montag ihre Stimme für die Stichwahle­n um zwei Sitze im Senat abgeben. Wahltag ist der 5. Januar.
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Glaubt immer noch an einen Wahlsieg Trumps: James Cole.
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Gibt ihre Stimme den Demokraten: She‰ kita Maxwell.

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