Guenzburger Zeitung

Er lag schon im Leichensac­k

Vor 14 Jahren überlebte Hady Jako einen Bombenansc­hlag im Irak. Heute arbeitet der 35-Jährige in einem Altersheim in Neu-Ulm und erzählt seine Geschichte in einem Buch

- VON DAGMAR HUB

Neu‰Ulm Hady Jako arbeitet in einem Altersheim in einem Stadtteil von Neu-Ulm. Er kann die dementen Senioren dort gut verstehen, wenn sie nach einer Mahlzeit klagen, nichts zu essen bekommen zu haben, oder wenn sie sagen: „Ich gehe jetzt nach Hause!“– obwohl das nicht möglich ist.

„Ich habe das genauso gesagt“, erzählt Hady Jako. „Ich habe gesagt, dass ich nach Hause gehe, obwohl ich nicht gehen konnte. Ich habe Papier gegessen und es für Kuchen gehalten.“Damals, als er aus dem Koma erwachte, als sein Denken ganz langsam wieder einsetzte, als er Worte wirr wahrnahm, als kämen sie aus unterschie­dlichen Richtungen. Damals. Das war 2006. Am 27. März 2006 überlebte Hady Jako einen Bombenansc­hlag des IS in Mossul auf eine Rekrutieru­ngsstelle vor einer Kaserne. Über 70 Menschen starben damals. Auch Hady Jako lag bereits in einem Leichensac­k – doch er lebte. Seine Geschichte erzählt der 35-Jährige jetzt in einem Buch. „Explosion und dann?“heißt es.

Das Buch, das er mit Unterstütz­ung von Freunden und der Psychologi­n Stephanie Evertz schrieb, ist ein großes Danke an alle, die ihm geholfen haben, sagt Hady Jako. Nein, „tausend Danke“seien es, korrigiert er sich. Wobei ein ganz besonderes Danke an einen amerikanis­chen Arzt geht, dessen Namen Hady Jako nicht kennt – an jenen Arzt, der am Leichensac­k in irgendeine­r Weise wahrgenomm­en haben muss, dass der Mensch im Inneren noch lebt. Als „Non-Survivor“war Jako aufgrund seiner extrem schweren Verletzung­en trotzdem eingeteilt worden. Der amerikanis­che Arzt Corbyn, der den Schwerstve­rletzten dann operierte, berichtet, dass dem jungen Mann „das meiste von seinem Gesicht“weggerisse­n worden war; ein Arm fehlte, der Bauch war zerfetzt, ein Bein verletzt.

Hady Jako ist Ezide – auf die Eigenbenen­nung für die ethnisch-religiöse Minderheit im nördlichen Iran, in Nordsyrien und der Südosttürk­ei legt er Wert –, geboren im Stamm der Raschka. Geboren wurde er in einem Dorf in der Gegend um Ninive, er lebte als Schäfer; sein Vater starb früh. Seine Mutter, die elf Kinder geboren hat, ist heute 73 Jahre alt und lebt in einem Flüchtling­slager in der Türkei. Eines Tages zurückkehr­en? „Daran denke ich keine Sekunde“, schildert Jako. Sehnsucht hat er – nach der Mutter und nach jenen Geschwiste­rn, die nicht der Verfolgung durch den Islamische­n Staat zum Opfer fielen oder vermisst sind. Mit den Geschwiste­rn, die verstreut in Sicherheit leben, telefonier­t er regelmäßig. Mit seiner Mutter telefonier­t Hady Jako dagegen selten – es koste ihn zu viel Kraft, sagt er, weil die Mutter immer von früher spreche, von Erinnerung­en, von den Geschwiste­rn, mit denen er spielte. Vom ersten Leben, das es nicht mehr gibt.

Hady Jakos Blick aber, das spürt der 35-Jährige, will sich nach vorne richten: Nachdem sich die Familie drei Jahre lang um den behinderte­n Sohn gekümmert hatte, der im Irak keine Chance auf Arbeit hatte und nichts tun konnte, wurde die Flucht nach Deutschlan­d organisier­t, wo etwa 200 000 Eziden in der Diaspora leben. In seinem Buch beschreibt Hady Jako, wie er nach Neu-Ulm kam, er beschreibt seinen unbedingte­n Willen, Deutsch zu lernen und Arbeit zu finden, was immer wieder an seiner Behinderun­g scheiterte. Glasauge und Hörgerät stellten sich dabei weniger als Problem heraus als eine Armprothes­e, die nur Berufstäti­gen finanziert werden sollte, aber für eine Bewerbung als nötig erachtet wurde. Trotz all seiner seelischen Kraft: Fast hätte der Weg des jungen Mannes in den Alkohol geführt – bis ihn eines Tages Pfarrerin Marion Abendroth auf dem Neu-Ulmer Petrusplat­z ansprach.

„Mamma Marion“nennt er die Pfarrerin, die ihn unter ihre Fittiche nahm. Hady Jako besitzt die Fähigkeit zu spüren, mit welchen Menschen er eine Art Ersatzfami­lie haben kann. Da ist Susanne, die mit ihm Langstreck­enlauf trainierte, oder der Italiener Paolo. Da ist „Oma Messerschm­idt“, die ihm im Altenheim eine Ersatzgroß­mutter wurde. Sie starb an Covid-19, Hady Jako besucht ihr Grab noch heute.

Zu Senioren fühlte sich Hady

Jako in seiner neuen Heimat schnell emotional hingezogen, und manchmal ist er gerührt, wenn ihm ein Altenheimb­ewohner aufgrund des fehlenden Armes Hilfe anbietet – Hilfe, die Hady Jako gibt. Nach Praktika in anderen Altenheime­n ist der Ezide seit 2016 fest in einem Altenheim tätig – inzwischen mit unbefriste­tem Arbeitsver­trag – in der Beschäftig­ung und Aktivierun­g der Senioren und er gibt Hilfe beim Essen und Anziehen und macht Fußpflege.

2018 war sein besonderes Jahr, sagt Hady Jako. Da bestand er den Einbürgeru­ngstest und wurde Deutscher. „Anerkennun­g so, wie ich bin, Zugehörigk­eit zur neuen Heimat“, schreibt Hady Jako, bedeutete das für ihn. Sein Leben in Neu-Ulm – Hady Jako erzählt vom Ulmer Schwörmont­ag, von seinem Lieblingsg­ericht Linsen, Spätzle und Wienerle, vom Marathonla­ufen, das ihn begeistert. „Und vielleicht“, sagt er ganz leise, „werde ich eines Tages heiraten und eine Familie haben. Aber ...“, und er deutet auf den fehlenden Arm und die Narben in seinem Gesicht.

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 ?? Foto: Alexander Kaya ?? Die Vergangenh­eit hat ihn gezeichnet: Schwerstve­rletzt überlebte Hady Jako 2006 einen Bombenansc­hlag im Irak. In seiner Hei‰ mat gab es für ihn keine Zukunft – also trat er den Weg nach Deutschlan­d an.
Foto: Alexander Kaya Die Vergangenh­eit hat ihn gezeichnet: Schwerstve­rletzt überlebte Hady Jako 2006 einen Bombenansc­hlag im Irak. In seiner Hei‰ mat gab es für ihn keine Zukunft – also trat er den Weg nach Deutschlan­d an.

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