Selma Lagerlöf: Der Fuhrmann des Todes (8)
Silvesternacht. Stark alkoholisiert bricht David auf einem Friedhof zusammen. Der Volksmund weiß: Der letzte Tote eines Jahres wird als Fuhrmann des Todes für zwölf Monate die Seelen Sterben der erlösen müssen. Eine Schauergeschichte mit sozialem Appell der ersten Literaturnobelpreisträgerin. © Projekt Gutenberg
Was sagst du da, David?‘ beginnt der Mann von neuem. ,Hast du sagen hören, Georg sei im vorigen Jahr gerade in der Neujahrsnacht in einem Krankenhaus zu Stockholm gestorben? Weißt du, mir ist, als habe ich es auch gehört, aber wir beide haben uns nicht zum erstenmal getäuscht. Denn der Fuhrknecht hier ist der Georg, wie er leibt und lebt. Sieh ihn nur an, jetzt, wo er aufsteht. Ist das vielleicht nicht der Georg mit dem kleinen ärmlichen Körper, der nie mit seinem Korporalskopf übereinstimmte? Ja, was sagst du nun, David? Hast du gesehen, als er vom Karren heruntersprang, flog sein Mantel so weit auseinander, daß sein alter langer zerlumpter Rock, der ihm immer bis auf die Fersen herunterhing, zum Vorschein kam? Und zugeknöpft bis zum Hals hinauf war er, David, genau wie immer, und das große rote Halstuch wedelte ihm um den Hals, aber ebenso wie früher war keine Spur von Hemd oder Weste da.‘
Der Gelähmte fühlt sich ganz aufgemuntert. Er hatte laut lachen können, wenn es ihm überhaupt möglich gewesen wäre, ein Lachen hervorzubringen.
,Wenn wir beide, du und ich, David, einmal wieder zu Kräften kommen, wollen wir dem Georg diesen Spaß heimzahlen. Es ist ihm mit diesem Aufzug fast gelungen, mir den Verstand in die Luft zu sprengen, wie wenn er Dynamit darunter gelegt hätte.
Aber es gehörte auch so ein Kerl wie der Georg dazu, um darauf zu verfallen, sich so einen Gaul und so einen Karren zu verschaffen und damit bis zur Kirche herzufahren. Nicht einmal du, David, wärst imstand gewesen, so einen schnurrigen Aufzug auszuhecken. Ja, ja, der Georg ist dir immer über gewesen.‘
Der Fuhrmann ist indessen zu dem am Boden Liegenden getreten und betrachtet ihn. Sein Gesicht ist starr und ernst. Es ist ihm durchaus nicht anzusehen, ob er weiß, wen er vor sich hat.
,Ein paar Punkte sind doch noch da, über die ich durchaus nicht ins Reine kommen kann,‘ denkt der Mann. ,Erstens, wie der Georg herausgebracht hat, daß ich und die Kameraden uns hier auf dem Rasen niedergelassen haben, so daß er auf die Idee kam, hierher zu fahren, um uns zu erschrecken. Zweitens, daß er sich in die Gestalt des Fuhrknechts des Todes zu verkleiden gewagt hat, vor dem er doch immer so große Angst hatte.‘
Jetzt beugt sich der Fuhrmann über den Daliegenden, aber immer noch mit demselben fremden Ausdruck.
„Der Ärmste hier wird nicht sehr froh sein, wenn er erfährt, daß er mich ablösen muß,“hört David ihn vor sich hinmurmeln.
Auf die Sense gestützt, beugt er das Gesicht immer tiefer herab, und im nächsten Augenblick erkennt er seinen Kameraden. Da bückt er sich ganz hinunter und sieht ihm in die Augen.
„Ach, ach, es ist David Holm!“ruft er aus. „Das war das einzige, von dem ich glaubte, es würde mir erspart bleiben.“
„Ach, David, daß du es bist, daß du es bist!“stöhnt er, indem er die Sense wegwirft und neben dem Daliegenden in die Knie sinkt. „Während dieses ganzen Jahres,“fährt er mit großer Herzlichkeit und tiefer Betrübnis fort, „hab’ ich immer gewünscht, Gelegenheit zu bekommen, dir nur ein einziges Wort zu sagen, ehe es zu spät ist. Einmal wäre es mir beinahe geglückt, aber du hast mir widerstanden, so daß ich nicht bis zu dir hingelangen konnte. Ich glaubte, ich würde es jetzt in der nächsten Stunde, gleich wenn ich von meinem Dienst abgelöst wäre, tun können, aber nun liegst du schon hier! Und jetzt komme ich zu spät, um dir zu sagen, du sollest dich in acht nehmen.“
David Holm hört dies alles mit unbeschreiblichem Erstaunen.
,Was meint er nur?‘ denkt er. ,Er redet ja, wie wenn er tot wäre. Und wann soll denn das gewesen sein, wo er mir nahe war und ich ihm widerstanden hätte? Aber es ist ja wahr,‘ beruhigt er sich, ,er muß ja so reden, wie es zu seiner Verkleidung paßt.‘
Nun fängt der Fuhrmann wieder an zu sprechen, und zwar mit tief bewegter Stimme.
„Ach, David, meinst du, ich wisse nicht, wie viel Schuld ich daran trage, daß es ein solches Ende mit dir genommen hat? Wenn du mir nicht begegnet wärst, hättest du auch fernerhin ein ruhiges, rechtschaffenes Leben geführt. Du hättest dich mit deiner Frau zum Wohlstand heraufgearbeitet; nichts hätte euch daran gehindert, denn ihr waret beide junge, tüchtige Leute. Du kannst versichert sein, David, während dieses ganzen letzten endlosen Jahres ist nicht ein einziger Tag vergangen, ohne daß ich voller Angst darüber nachgedacht hätte, daß ich es war, der dich von deinem fleißigen Lebenswandel weggelockt und dich meine eigenen schlechten Gewohnheiten gelehrt hat. Ach, ach,“fährt er fort, indem er dem Freunde zärtlich übers Gesicht streicht, „ich fürchte, du bist noch weiter vom Guten abgekommen, als ich tatsächlich weiß. Wie hätten sich sonst diese furchtbaren Linien um deine Augen und deinen Mund eingegraben?“
David Holms gute Laune fängt an, sich in Ungeduld zu verwandeln.
,Laß es jetzt des Scherzes genug sein, Georg,‘ denkt er. ,Geh lieber und hole jemand herbei, der dir helfen kann, mich auf den Karren zu heben, und fahr’ mich so rasch du kannst nach dem Lazarett.‘
„Ich nehme an, daß du weißt, was ich in diesem Jahr zu tun gehabt habe, David,“sagt der Fuhrmann. „Und du weißt auch, was das für ein Karren und was es für ein Pferd ist, die mich hergebracht haben. Ich brauche dir auch nicht erst zu sagen, wer nach mir die Sense hier ergreifen und die Zügel führen soll. Aber, David, bedenke wohl und vergiß es nicht, ich bin es nicht, der dich zu diesem Schicksal bestimmt hat.
Denk doch, während dieses ganzen entsetzlichen Jahres, das dich erwartet, nie und nimmer, ich hätte meinen eigenen Willen gehabt und es vermeiden können, heute nacht mit dir zusammenzutreffen. Sei überzeugt, wenn es möglich gewesen wäre, hätte ich alles getan, um es dir zu ersparen, dasselbe durchmachen zu müssen wie ich.“
,Vielleicht ist Georg tatsächlich verrückt geworden,‘ denkt David Holm. ,Sonst müßte er doch begreifen, daß es sich für mich um Leben und Tod handelt, und er nicht auf diese Weise saumselig sein dürfte.‘
Doch in dem Augenblick, wo David Holm also denkt, sieht ihn der Fuhrmann unsäglich wehmütig an.
„Du brauchst dich nicht aufzuregen, weil du nicht ins Lazarett gebracht wirst, David. Wenn ich zu einem Kranken gekommen bin, ist es zu spät für ärztliche Hilfe.“
,Ich glaube, heute nacht sind alle Teufel losgelassen, um ihren Spuk mit mir zu treiben,‘ denkt David Holm. ,Wenn nun endlich ein Mensch daherkommt, der mir helfen könnte, dann ist er entweder verrückt oder so heimtückisch, daß es ihm ganz einerlei ist, ob ich zugrunde gehe.‘
„Ich möchte dich an ein Vorkommnis vom vorigen Sommer erinnern, David,“fährt der Fuhrmann fort. »9. Fortsetzung folgt