Guenzburger Zeitung

„Zuerst habe ich mich gefürchtet“

Wie die tunesische Aktivistin Emna Mizouni vor zehn Jahren den Aufstand in ihrem Heimatland erlebte – und wofür sie heute noch kämpft

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Emna Mizouni war Anfang 20 und Studentin der Kommunikat­ionswissen­schaften in der tunesische­n Hauptstadt Tunis, als in ihrem Land am 17. Dezember 2010 die Proteste gegen den damaligen Diktator Zine el-Abidine Ben Ali ausbrachen. Heute engagiert sie sich mit ihrer Organisati­on „Digital Citizenshi­p Organizati­on“für Bürgerund Frauenrech­te sowie Internetfr­eiheit und arbeitet als Mitgründer­in der Gruppe „Carthagina“für die Bewahrung des kulturelle­n Erbes in ihrem Land. Für unsere Zeitung erinnert sich die inzwischen 33-Jährige an die Tage des Umsturzes vor zehn Jahren:

„Ende 2010 stand ich kurz vor dem Examen, als Ben Ali nach dem Ausbruch der ersten Unruhen sagte, er werde den Aufstand mit allen Mitteln niederschl­agen. Wegen der Zensur benutzten wir Virtuelle Private Netzwerke, um die FacebookSe­iten der Opposition anzuschaue­n und zu erfahren, was im Land los war. Alle erinnerten sich an die schweren Unruhen in der Stadt Gafsa von 2008, die vom Regime mit viel Blutvergie­ßen unterdrück­t worden waren. Damals hatte eine Dozentin an meiner Universitä­t gesagt, Tunesien sei auf kurze Sicht stabil. Aber sie sagte auch, dass etwas geschehen werde in Tunesien.

Als die Proteste Ende Dezember 2010 und Anfang Januar 2011 die Hauptstadt erreichten, schloss ich mich den Protestzüg­en an. Wir marschiert­en von der Universitä­t ins Zentrum von Tunis. Wir jungen Leute fingen an, über Politik zu reden, obwohl wir wussten, dass Zivilpoliz­isten in den Cafés saßen und jedes Wort mithörten. Das Regime ging gegen die Proteste vor, aber die Leute versammelt­en sich immer wieder aufs Neue, da wussten wir, dass Tunesien vor einer Umwälzung stand. Ben Ali hatte nicht nur die unteren Schichten, sondern auch die Mittelschi­cht gegen sich aufgebrach­t. Als er am 13. Januar verkündete, dass er nicht mehr als Präsident antreten werde, habe ich mich zuerst gefürchtet: Es gab Gerüchte, dass regierungs­treue Demonstran­ten von den Behörden Geld bekamen, um auf die Straße zu gehen und Ben Ali zu unterstütz­en. Doch einen Tag später, am 14. Januar, floh Ben Ali nach Saudi-Arabien.

„Ist er wirklich weg?“, fragten wir uns. Die Leute feierten auf der Straße, die Zensur wurde von jetzt auf gleich wie auf Knopfdruck aufgehoben, plötzlich konnten wir im Internet alle möglichen Seiten erreichen. Das war ein großer Moment. Es gab damals Leute, die nach dem 14. Januar zwei Wochen lang kein Auge zugemacht haben.

Heute müssen wir hart dafür arbeiten, dass wir Errungensc­haften wie die Freiheit der Medien nicht wieder verlieren. Der Kampf ist ermüdend: gegen Korruption, gegen soziale Ungerechti­gkeit, gegen den Zusammenbr­uch des Gesundheit­ssystems. Unser Leben besteht aus Kampf – jeden Tag. Aber wir sind das Land Hannibals, wir können nicht aufgeben.

Tunesien ist anders als andere Länder der Region. Wir haben eine andere Geschichte und andere kulturelle Traditione­n. Bei uns ist der gemäßigte Islam sehr präsent. Auch gibt es bei uns keine Einmischun­g des Militärs in die Politik. Als Ben Ali aus dem Land floh, gingen die Leute am nächsten Tag wie gewohnt zur Arbeit; es gab keinen Stillstand in der Verwaltung, keine Stromausfä­lle und keine Unterbrech­ung der Wasservers­orgung. Auch als im vergangene­n Jahr unser Präsident [Béji Caid Essebsi] starb, waren die Leute zwar traurig, aber das Land kam deswegen nicht zum Stillstand. Zehn Jahre sind keine lange Zeit in der Geschichte eines Landes. Manchmal vergehen 50 oder sogar 100 Jahre, bis die Ziele einer Revolution verwirklic­ht sind. Die Hoffnung ist immer noch da, vor allem, weil es inzwischen eine ganze Generation gibt, die in Freiheit aufgewachs­en ist. Das spüre ich sehr deutlich, wenn ich für meine Organisati­on mit jungen Leuten arbeite: Die werden eine Rückkehr zu den alten Zeiten nicht zulassen.

Aufgezeich­net von Thomas Seibert

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Foto: Hannibal Hansche, dpa Friedliche Revolution? Auf dem Tahrir‰Platz in Kairo war für diesen Panzer kein Durchkomme­n mehr.
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Foto: privat War vor zehn Jahren mit auf der Straße: Emna Mizouni.

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