Für einen Tag ein Popstar
Guido Westerwelle, die deutsche Außenpolitik und die Arabellion
Augsburg Guido Westerwelle ist auf dem Weg nach Kairo, als der Pilot seiner Maschine ihn ins Cockpit bittet. Unten, ein paar hundert Kilometer entfernt, zucken helle Blitze durch die Nacht, ein Gewitter aber kann es nicht sein, das würde das Wetterradar anzeigen. Ein ehemaliger Offizier in der Delegation des Außenministers ist sich sicher: „Das sieht wie Artilleriebeschuss aus.“Offenbar nimmt in Libyen gerade Muammar al-Gaddafi sein Volk unter Feuer – oder sein Volk ihn, so genau weiß man das in diesen Tagen nicht. Später wird es heißen, Gaddafi
habe an jenem Abend die Ölindustrie des Landes bombardieren lassen. Motto: Nach mir die Sintflut.
Es ist ein gespenstischer Moment für Westerwelle und seine Mitreisenden, den Bürgerkrieg buchstäblich vor Augen. Tags darauf, in Kairo, dann das Kontrastprogramm: Der deutsche Außenminister steht auf dem Tahrir-Platz, dem Epizentrum der Arabellion, und wird gefeiert wie ein Popstar. Zwei Wochen vor diesem sonnigen Februartag 2011 haben die Ägypter ihren Diktator Hosni Mubarak gestürzt, sie träumen von Freiheit und Wohlstand, während nebenan, in Libyen, ein enthemmter Diktator noch immer seine Macht verteidigt. „Es lebe Deutschland“skandieren Tausende auf dem Tahrir-Platz. „Und es lebe Ägypten.“Westerwelle kommt kaum voran, so dicht drängen sich die Menschen um ihn – Schwerstarbeit für seine Personenschützer.
Die Reise des Außenministers ist ein Signal: Staaten wie Ägypten, die sich am Westen ein Beispiel nehmen, dürfen auf deutsche Hilfe hoffen, auf Kredite, auf Ausbildungsprogramme für arbeitslose Jugendliche und Stipendien für Studenten. „Der Tahrir-Platz“, lobt der 2016 verstorbene Westerwelle in Kairo, „wurde zur Herzkammer einer friedlichen Revolution, für die gerade wir Deutsche vor dem Hintergrund unserer eigenen Geschichte Hochachtung und Sympathie empfinden.“Zwei Jahre später ist alle Euphorie dahin: Das Militär hat in Ägypten geputscht, der Traum von der Demokratie ist geplatzt.
Eine Beteiligung an einem Militäreinsatz in Libyen, hartnäckig eingefordert vom französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy, hat Westerwelle früh abgelehnt. Bei der Abstimmung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, dem Deutschland damals gerade angehört, enthält der deutsche Botschafter sich.
Der Außenminister setzt auf Sanktionen: „Ich sehe mich in einer Tradition der Zurückhaltung, was militärische Einsätze angeht.“Sein Vorgänger Joschka Fischer dagegen hält die Entscheidung seines Nachfolgers für „das vielleicht größte Debakel seit Gründung der Bundesrepublik“. Jahre später jedoch wird die große Hilfskonferenz für Libyen nur deshalb in Berlin stattfinden können, weil Deutschland sich herausgehalten hat und nun in der Lage ist, in die Rolle des ehrlichen Maklers zu schlüpfen – ein posthumer Triumph für Westerwelle.
Hat Deutschland womöglich zu viel in den Arabischen Frühling hineininterpretiert? Der frühere Fraktionschef der SPD im bayerischen Landtag, Franz Maget, hat drei Jahre als Sozialreferent an den Botschaften in Tunis und Kairo gearbeitet. Mindestens so wichtig wie freie Wahlen, weiß er seitdem, wären damals bürgerschaftliches Engagement, freie Gewerkschaften, unabhängige Medien und säkulare Parteien gewesen, die es in vielen Ländern der Region bis heute nicht gibt. Ohne klarere Trennung von Staat und Religion aber, ahnt Maget, „wird die arabische Welt keine gute Zukunft gewinnen können“.