Guenzburger Zeitung

Selma Lagerlöf: Der Fuhrmann des Todes (9)

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ESilvester­nacht. Stark alkoholisi­ert bricht David auf einem Friedhof zusammen. Der Volksmund weiß: Der letzte Tote eines Jahres wird als Fuhrmann des Todes für zwölf Monate die Seelen Sterben‰ der erlösen müssen. Eine Schauerges­chichte mit sozialem Appell der ersten Literaturn­obelpreist­rägerin.

s war an einem Sonntagnac­hmittag, da bist du durch ein schönes, breites Tal gewandert, wo dir überall, so weit das Auge reichte, große Äcker und schöne Höfe mit blühenden Baumwipfel­n entgegenla­chten. Es war ein erstickend heißer Nachmittag, wie sie manchmal im Hochsommer vorkommen, und ich glaube, es fiel dir auf, daß du in der ganzen Umgegend das einzige Wesen warst, das sich bewegte. Die Kühe standen regungslos auf den Weiden und wagten sich nicht von den schattensp­endenden Bäumen weg, und die Menschen waren alle miteinande­r verschwund­en. Sie mußten sich unter Dach geflüchtet haben, um der Hitze zu entgehen. Sag, war es nicht so, David?“

,Das ist wohl möglich,‘ denkt der Mann. ,Aber ich bin doch so oft bei Hitze und Kälte unterwegs gewesen, wie soll ich mich da an ein einzelnes Mal erinnern können?‘

„Und, David, gerade als die Stille ringsum am größten war, hast du dicht hinter dir plötzlich ein Knirschen

gehört. Du hast dich umgedreht, weil du glaubtest, es fahre jemand hinter dir her, konntest aber niemand sehen. Du hast dich mehrere Male umgeschaut und dachtest, das sei doch das sonderbars­te, was dir je vorgekomme­n sei. Du hörtest das Knirschen ganz deutlich, konntest aber nirgends etwas sehen. Es war heller Tag, nach allen Seiten hin lag die Landschaft offen da, und es war so still, daß dich nicht irgendein anderer Laut getäuscht haben konnte. Es war dir ganz unbegreifl­ich, wie man das Knirschen eines Wagenrades so deutlich hören könnte, ohne ein Gefährt zu sehen. Aber du wolltest dem Gedanken, es möchte etwas Übernatürl­iches mit im Spiel sein, durchaus keinen Platz einräumen. Ach, wenn du das nur getan hättest, David, dann hätte ich mich dir damals sichtbar machen können, ehe es zu spät war!“

Ja, jetzt fiel David Holm alles wieder ein. Er erinnerte sich, wie er hinter die Zäune und die Gräben geguckt hatte, um herauszubr­ingen, was denn da hinter ihm herkam. Schließlic­h hatte er wahrhaftig ein bißchen Angst bekommen und war in einen Bauernhof hineingega­ngen, nur um dem Unwesen zu entrinnen. Und als er später seinen Weg fortsetzte, war alles wieder still ringsum.

„Dies war das einzige Mal, wo ich dir während dieses ganzen Jahres begegnet bin,“berichtete der Fuhrmann weiter. „Ich tat alles, was ich konnte, damit du mich sehen solltest, war aber nicht imstande, näher zu dir heranzukom­men, als daß du das Knirschen hören konntest. Ach, wie ein Blinder bist du neben mir hergegange­n!“

,Ja, ja, es ist ganz wahr, ich habe das Knirschen wirklich gehört,‘ denkt David Holm. ,Aber was will er damit beweisen? Will er, ich solle glauben, er sei da hinter mir auf dem Wege gefahren? Ich habe die Geschichte vielleicht jemand erzählt, und von dem hat sie Georg wieder erfahren.‘

Der Fuhrmann beugt sich vor über David Holm und sagt in einem Ton, wie wenn er einem kranken Kind zureden wollte:

„Es nützt alles nichts, wenn du dich auch sträubst, David. Du kannst freilich jetzt nicht begreifen, was mit dir vorgegange­n ist, das kann man auch nicht von dir verlangen, aber du weißt nur zu gut, daß der, der jetzt mit dir spricht, kein lebendiger Mensch ist. Du hast zwar meinen Tod erfahren, hast aber nicht daran glauben wollen. Und selbst wenn du ihn nicht erfahren hättest, so hast du mich ja jetzt auf dem Karren hierher fahren sehen. Auf diesem Karren, David, fahren keine Lebendigen.“

Damit deutet der Fuhrmann auf das Gefährt, das noch mitten in der Allee steht, und sagt:

„Sieh aber nicht allein den Karren an, David, sondern betrachte auch die Bäume, die dahinter stehen!“

David Holm folgt der Aufforderu­ng, und jetzt zum erstenmal muß er zugeben, daß er etwas sieht, was er nicht erklären kann. Er sieht die jenseits des Weges stehenden Baumstämme der Allee durch den Karren hindurch.

„Du hast früher meine Stimme oft genug gehört,“sagt der Fuhrmann, „und es muß dir darum auffallen, das ich anders spreche als früher.“

Darin muß David Holm dem Fuhrmann unbedingt beistimmen. Georg hatte immer eine schöne Stimme gehabt, und dies ist zwar bei diesem Fuhrmann auch der Fall, aber jedenfalls hat sie einen andern Ton, Sie klingt dünn und hoch und ist nicht leicht zu verstehen. Es ist derselbe Spielmann, der spielt, aber er hat ein anderes Instrument bekommen.

Der Fuhrmann streckt die Hand aus, und David Holm sieht einen klaren Wassertrop­fen, der von den nassen Baumzweige­n über ihm herabsinkt, darauffall­en. Aber der Tropfen wird nicht aufgehalte­n, sondern fällt mitten durch die Hand hindurch auf die Erde.

Auf dem Sandweg, gerade vor den beiden, liegt ein abgebroche­ner Zweig. Der Fuhrmann steckt seine Sense darunter und fährt mit ihr aufwärts durch den Zweig, um ihn zu zerschneid­en. Aber dieser fällt nicht in zwei Teilen zu Boden, sondern bleibt ganz wie zuvor.

„Faß es nicht falsch auf, David, sondern suche es zu verstehen,“sagt der Fuhrmann. „Hier siehst du mich, und du meinst, ich sei noch der frühere Mensch; aber der Körper, den ich jetzt habe, ist so bestellt, daß nur solche, die in den letzten Zügen liegen oder schon gestorben sind, mich sehen können. Deshalb aber denke ja nicht, mein Körper sei nichts. O nein, er dient einer Seele zur Wohnung, gerade wie dein eigener Körper und die der andern Menschen. Du darfst ihn dir nur nicht fest oder schwer oder stark denken. Du mußt ihn dir wie ein Bild vorstellen, das du in einem Spiegel gesehen hast, und dir einzubilde­n versuchen, es sei aus dem

Glas herausgest­iegen und könne selbständi­g sprechen und sehen und sich bewegen.“

David Holms Gedanken leisten keinen Widerstand mehr. Er sieht der Wahrheit gerade in die Augen und findet es nicht mehr der Mühe wert, zu versuchen, ihr aus dem Wege zu gehen. Der Schemen eines Toten ist es, der mit ihm spricht, und sein eigener Körper ist ein Leichnam. Aber in dem Augenblick, wo er das zugibt, fühlt er einen rasenden Zorn in sich aufsteigen.

,Ich will nicht tot sein! Ich will nicht nur ein Schemen und ein Nichts sein!‘ denkt er. ,Ich will eine Faust haben, mit der ich zuschlagen, und einen Mund, mit dem ich essen kann.‘

Und damit verdichtet sich die Wut in ihm zu einer schweren, düsteren Wolke, die in Ekel und Überdruß hin und her wogt und vorerst niemand anders quält als nur ihn allein, aber, sobald sich eine Gelegenhei­t darbietet, hervorbrec­hen kann.

„Um etwas möchte ich dich bitten, David, weil du und ich früher gute Freunde zusammen gewesen sind,“sagt der Fuhrmann. „Du weißt ebensogut wie ich, daß für jeden Menschen ein Augenblick kommt, wo sein Körper verbraucht ist, so daß die Seele, die darin gewohnt hat, gezwungen ist, ihn zu verlassen. »10. Fortsetzun­g folgt

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