Guenzburger Zeitung

Einer von 80 Millionen

Weltweit sind so viele Menschen auf der Flucht wie nie zuvor. Auch der Syrer Mohammed lebt mit seiner Familie im Flüchtling­scamp. „Wir wollen nur nach Hause“, sagt er. In Deutschlan­d läuft eine ganz andere Diskussion: Ob Syrer zurück in ihre Heimat gezwun

- VON THOMAS SEIBERT UND SIMON KAMINSKI

Sarmada Im Zelt herrscht penible Ordnung. Matratzen und Decken sind in einer Ecke gestapelt, die Teppiche auf dem nackten Lehmboden sind sauber gefegt. Etwa 20 Quadratmet­er groß ist das Zuhause der Familie von Mohammed, einem Lastwagenf­ahrer aus der syrischen Stadt Ma’arat al-Numan. Seit drei Jahren ist Mohammed mit seiner Frau und seinen drei Kindern auf der Flucht, seit einem Jahr hausen sie in diesem dünnen Zelt außerhalb der syrischen Kleinstadt Sarmada nahe der türkischen Grenze. Eine nackte Glühbirne hängt an der Zeltdecke, geheizt wird mit einem Holzofen – wenn Mohammed genug Feuerholz findet. Heute war das nicht so. „Wir haben nur ein paar Abfälle gefunden“, sagt Mohammed. Manchmal verbrennen sie Plastikmül­l. Den Jahreswech­sel haben sie in Kälte und Dreck verbracht, Luxusprobl­eme wie der Ärger mancher in Deutschlan­d über das Böllerverb­ot müssen ihnen, die vor Bomben geflohen sind, vorkommen wie purer Zynismus.

Mohammed sitzt mit Jacke und Mütze in seinem Zelt; zwei seiner Kinder sind bei ihm. Die britische Hilfsorgan­isation Hihfad hat den Kontakt zu Mohammed über das Chatprogra­mm Skype vermittelt und damit den Blick in den traurigen Alltag der Familie ermöglicht. Ihr Zelt steht in einem Flüchtling­slager für etwa hundert Familien in der Provinz Idlib, etwa 80 Kilometer nördlich von Mohammeds Heimatstad­t Ma’arat al-Numan.

Im Lager teilen sich im Schnitt etwa 15 Familien eine Toilette – und damit geht es den Flüchtling­en noch relativ gut. „In anderen Lagern gibt es nur ein Loch im Boden“, sagt Omar al-Akraa, der das Lager in Sarmada für die Hilfsorgan­isation betreut. Immerhin weiß Mohammed seine Familie in Sicherheit, zumindest vorerst.

In diesen Tagen, so hat es die UN-Flüchtling­shilfe-Organisati­on diese Woche mitgeteilt, sind weltweit so viele Menschen auf der Flucht wie nie zuvor: 80 Millionen haben sich in der Hoffnung auf ein anderes Leben auf den Weg gemacht – aus Syrien, dem Jemen, aus

Afrika. In der Provinz Idlib, der letzten Rebellenho­chburg nach fast zehn Jahren Krieg in Syrien, drängen sich etwa drei Millionen Menschen, die vor den Truppen von Machthaber Baschar al-Assad und seinen russischen Verbündete­n geflohen sind. Ein Vormarsch von Assads Armee stoppte im Frühjahr, nachdem Ankara in Moskau intervenie­rte und eine Vereinbaru­ng über das vorläufige Ende des Angriffs erreichte. Die Türkei, die mehr als drei Millionen Syrer versorgt, befürchtet einen weiteren Massenanst­urm von Flüchtling­en aus Idlib. Die Regierung in Ankara wollte feste Notbehausu­ngen auf syrischem Boden in Idlib errichten, um die Flüchtling­e besser unterbring­en zu können. Deutschlan­d wollte sich mit 25 Millionen Euro beteiligen, doch wegen der immer wieder aufflammen­den Kämpfe ist aus dem Plan nichts geworden.

Von Sarmada aus sind es nur wenige Kilometer zur geschlosse­nen Grenze der Türkei. In dieser Gegend fühlen sich die Menschen sicherer als in anderen Teilen von Idlib, sagt Hihfad-Helfer Akraa. Mehr als tausend große und kleine Flüchtling­slager gibt es in Idlib insgesamt. Manche Vertrieben­e wie Mohammed schlafen in Zelten, die sie von der UN erhalten haben, andere in Bauruinen. Der Winter ist hart für die Menschen hinter den dünnen Zeltplanen und in den zugigen Verschläge­n. Die Temperatur­en fallen nachts bis auf den Gefrierpun­kt, und es regnet häufig.

Zurück nach Ma’arat al-Numan kann Mohammed nicht. Er weiß, dass syrische Regierungs­truppen sein Haus geplündert und requiriert haben. Selbst wenn er das Risiko einginge, über die Frontlinie zu ziehen, hätte er keine Bleibe. Er kann nur hoffen, dass seine Familie den Winter im Zelt einigermaß­en übersteht. Mit dem Gedanken, dass es im neuen Jahr vielleicht besser wird, macht er sich Mut. „Wir wollen nicht als Flüchtling­e nach Deutschlan­d oder in die Türkei“, sagt er. „Wir wollen nur nach Hause.“

Während die Familie von Mohammed sich danach sehnt, wieder in ihre syrische Heimatstad­t zurückzuke­hren, wird in Deutschlan­d darüber diskutiert, ob und wie es möglich sein soll, Syrer gegen ihren Willen zurückzubr­ingen – also abzuschieb­en. So grundversc­hieden diese beiden Ausgangspo­sitionen klingen, eine Klammer gibt es dennoch: Mohammed fürchtet, dass das AssadRegim­e eine Rückkehr nutzen würde, um Rache zu üben – die Gegner von Abschiebun­gen in Deutschlan­d halten Zwangsausw­eisungen in eine menschenve­rachtende Diktatur für rechtlich und moralisch nicht vertretbar. Befürworte­r pochen darauf, dass es möglich sein muss, die Abschiebun­g von Straftäter­n und islamistis­chen Fanatikern zumindest im Einzelfall zu prüfen.

In letztere Kategorie, „Gefährder“genannt, gehören nach Zahlen des Bundesinne­nministeri­ums immerhin rund 90 Syrer, die sich in Deutschlan­d befinden. Ihnen werden religiös motivierte Gewalttate­n, ja sogar Anschläge zugetraut. Davor müsse die deutsche Bevölkerun­g geschützt werden, fordern Politiker der Union. Die Abschiebun­gsdebatte wurde im Oktober durch eine Messeratta­cke in Dresden befeuert, bei der ein Mann erstochen wurde. Als Tatverdäch­tiger festgenomm­en wurde ein Syrer mit Kontakten zu radikal-islamistis­chen Kreisen.

Tatsächlic­h hat Innenminis­ter Horst Seehofer (CSU) sein Ziel erreicht: Im Dezember entschied eine Mehrheit der Bundesländ­er, den Abschiebes­topp für Syrer zum 1. Januar 2021 auslaufen zu lassen. Vertreter von Hilfsorgan­isation, aber auch Politiker reagierten entsetzt. Niedersach­sens Innenminis­ter Boris Pistorius sprach von einer „populistis­chen“Entscheidu­ng. Ob die Bundesregi­erung wirklich bereit sei, diplomatis­che Beziehunge­n zu dem „Verbrecher­regime“in Damaskus aufzunehme­n, fragte er. In der Tat trifft Pistorius damit einen wunden Punkt. Denn es ist wenig wahrschein­lich, dass nach dem Jahreswech­sel tatsächlic­h in Richtung Syrien abgeschobe­n werden kann. Es fehlt schlicht der nötige Ansprechpa­rtner auf der anderen Seite – eben diplomatis­che Beziehunge­n. Eine Initiative des Auswärtige­n Amtes, dies zu ändern, gibt es offensicht­lich nicht. Berlin schreckt vor einer Aufwertung der Assad-Diktatur zurück. Für entscheide­nd halten die Befürworte­r einer Verlängeru­ng des Abschiebes­topps, dass den Zwangsrück­kehrern in Syrien Folter und Tod drohen. Experten berichten von einer nach wie vor katastroph­alen Menschenre­chtslage. Und davor müssten auch Syrer geschützt werden, die in Deutschlan­d Straftaten begangen haben.

Unbescholt­ene Flüchtling­e wie Mohammed werden in Sarmada auch von einer japanische­n Hilfsorgan­isation und der UN unterstütz­t und beschützt. Sie erhalten Wasser, Lebensmitt­el und ein wenig Bargeld, um sich das Nötigste kaufen zu können. Selbst wenn es Jobs gäbe, hätte Mohammed vermutlich Probleme, etwas Geeignetes zu finden: Eine Explosion bei einem Luftangrif­f vor seiner Flucht hat ihm den linken Unterschen­kel weggerisse­n.„Hier“, sagt er, schnallt seine

Prothese ab und hält sie in die Kamera. Mohammed kann nichts tun außer warten, dass der Krieg irgendwann einmal zu Ende geht, und hoffen, dass Assads Truppen nicht doch wieder vorrücken. Die Erfahrunge­n aus den langen Jahren des Krieges seit 2011 verspreche­n allerdings nichts Gutes. Allein zwischen dem Dezember 2019 und Anfang März 2020 wurden nach einer Zählung der UN fast eine Million Menschen von Gefechten im Nordwesten Syriens vertrieben.

Assad beharrt auf seinem Ziel, Idlib wieder unter die Kontrolle seiner Regierung zu stellen. Die militärisc­he Lage im Nordwesten Syriens ist deshalb trotz der Waffenstil­lstandsver­einbarung vom Frühjahr nicht stabil. Fast jeden Tag gibt es Meldungen über Angriffe, Explosione­n und Anschläge. Türkische Soldaten haben nach Angaben der syrischen Beobachtun­gsstelle für Menschenre­chte fünf ihrer ursprüngli­ch zwölf Stützpunkt­e in Idlib aufgegeben, weil sie dort unter Beschuss geraten waren. Auch in der seit 2018 von der Türkei kontrollie­rten Gegend um Afrin nordöstlic­h von Idlib brechen immer wieder Gefechte aus.

Derzeit sind die Kämpfe noch weit von dem Flüchtling­slager in Sarmada entfernt. Trotzdem macht sich Mohammed Sorgen um die Zukunft seiner Kinder. Eine Schule oder einen Spielplatz gibt es nicht. „Für einen Lehrer, der ins Lager kommen könnte, ist kein Geld da“, sagt Hihfad-Helfer Akraa. Theoretisc­h könnten die Kinder aus dem Lager in umliegende­n Orten zur Schule gehen, aber es fehlen Busse, um sie zu fahren. Akraa ist selbst ein Flüchtling. Er hat im Krieg 44 Verwandte verloren. Keinen Job zu haben und nichts tun zu können, sei mit das Schlimmste, sagt er. „Jeder Tag ist wie ein ganzes Jahr.“

Millionen von Menschen im Norden Syriens auch nur am Leben zu halten ist eine gigantisch­e Aufgabe für die UN und die Hilfsorgan­isationen. Allein in der ersten Hälfte des Jahres 2020 brachten rund 8400 Lastwagen tausende Tonnen Nahrung, Trinkwasse­r und Medizin aus der Türkei nach Nordsyrien – das sind fast 50 Lastwagen jeden Tag. Die Corona-Pandemie erschwert die Versorgung noch weiter. Die Krankenhäu­ser in Idlib sind wegen des Krieges und der großen Zahl der Flüchtling­e bereits überlastet, sodass es kaum Betten, Personal und Geräte für Covid-Patienten gibt. Die Mediziner schlagen Alarm, weil „die Menschen im Nordwesten des Landes sich in den Zelten kaum vor Kälte schützen können und die Straßen in den Camps regelmäßig zu schlammige­n Flüssen werden“, wie Ärzte ohne Grenzen beschreibt. Mitglieder der Organisati­on verteilen Kleidung, Planen, Matratzen und Decken. Etwa 14500 Familien in 70 Lagern sollen davon profitiere­n. Außerdem sollen Mitarbeite­r der Organisati­on helfen, 2275 Zelte in sechs Camps westlich der Provinzhau­ptstadt Idlib zu reparieren.

Die Versorgung wird ohnehin schwierige­r. Russland will die internatio­nale Gemeinscha­ft zwingen, die Hilfsgüter durch das von Assad kontrollie­rte Gebiet zu transporti­eren, und benutzt seine Macht als Ständiges Mitglied im UN-Sicherheit­srat dazu, die Zahl der Zugangskor­ridore aus der Türkei zu verringern. Im Sommer setzte Moskau durch, dass die Flüchtling­e nur noch über den türkisch-syrischen Grenzüberg­ang Bab al-Hawa nahe Sarmada versorgt werden dürfen.

Die Menschenre­chtsorgani­sation Human Rights Watch kritisiert­e die Schließung­en als „Sargnagel“für die UN-Bemühungen in Syrien. Und die Flüchtling­e stecken in Idlib fest – im alten Jahr wie im neuen.

Flüchtling­e in den Camps fürchten den Winter

Die Krankenhäu­ser Idlibs sind überfüllt

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Fotos: Hihfad, Anas Alkharbout­li, dpa Mohammed und seine Familie halten ihr Zelt so sauber wie ein Wohnzimmer. Doch die Kälte vertreiben auch dicke Teppiche nicht.
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Ein Arzt der Weltgesund­heitsorgan­isati‰ on macht Corona‰Tests in Idlib. Das Vi‰ rus verschärft die Lage dort.

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