Guenzburger Zeitung

Die neue Gemeinscha­ft

Die Pandemie ermöglicht auch Optimismus: Botschafte­n für eine Welt danach – ein Projekt von „The New Institute“in Zusammenar­beit mit unserer Zeitung

- VON GEORG DIEZ UND GREGOR PETER SCHMITZ

Corona war ein Schock für diese Gesellscha­ft, für jeden von uns, für die ganze Welt – Corona ist aber auch eine Chance, weil die Pandemie und ihre Folgen einen Ausblick ermögliche­n auf eine andere, veränderte Welt, auf einen anderen Umgang miteinande­r und mit der Natur, weil sich etwas öffnet, ein Blick nach vorne, oft aus Notwendigk­eit oder auch Not heraus: Veränderun­g ist unumgängli­ch, sie ist aber auch möglich.

Wie viele Menschen haben ihr Verhalten auf eine Art und Weise verändert, die vor ein paar Monaten noch undenkbar gewesen wäre. Wie viele alte Gewissheit­en wurden erschütter­t, wie viel Neues ist dabei aber auch sichtbar geworden. Wie viel hat sich im Handeln und vor allem im Denken schon verschoben – was sich gezeigt hat, ist eine Art pandemisch­es Denken, ein Denken der Adaption und Innovation, ein Denken des Experiment­ierens, des Lernens und Reagierens, ein Denken auch, das die Enge des Augenblick­s überwindet.

Wichtig ist zu verstehen: Diese Pandemie ist mehr als eine Erscheinun­g, die vorübergeh­t. Masken werden wieder verschwind­en, nicht aber die Gründe für die Pandemie. Corona ist nicht allein eine Krankheit, die einzelne Menschen befällt und tragischer­weise zum Teil auch tötet; Corona ist eine systemisch­e Krise über die Fragen der individuel­len Gesundheit hinaus – denn die Gründe reichen tief und betreffen die wesentlich­en Grundlagen, wie wir in den vergangene­n 250 Jahren Wirtschaft und Politik organisier­t haben.

Corona, und das ist erst mal die schlechte Nachricht, ist der Beginn von weiteren Pandemien und Krisen dieser und anderer Art, wie sie das 21. Jahrhunder­t prägen werden – im Zentrum steht dabei der menschenge­machte Klimawande­l, die Gründe und die Folgen. Corona aber, und das ist die gute Nachricht, zeigt mit schonungsl­oser Klarheit die Verbindung­en dieser Krisen, Corona zeigt die Verletzlic­hkeit unserer Gesellscha­ften, Corona zeigt die Grenzen unserer Vorstellun­g von Wachstum, Freiheit, Autonomie.

Corona könnte also, wenn wir es richtig anstellen, ein Anfang sein für etwas Neues – getragen von der Einsicht, dass wir alle verbunden sind, in dieser Zeit und über diese Zeit hinaus denn die Folgen unseres Handelns werden alle Generation­en betreffen, die nach uns kommen: ein existenzie­lles Verständni­s von Ökologie, das Netzwerk der Natur, dessen Teil wir Menschen sind. Wir sind nicht außerhalb – und deshalb müssen wir uns als Menschen und jeder für sich so verhalten, dass das System, dass das Ganze überlebt.

Aus dieser Erkenntnis nun ergeben sich ein paar sehr grundsätzl­iche Fragen: Wie können wir etwa Freiheit und Verantwort­ung zusammende­nken und damit den reduktioni­stischen Freiheitsb­egriff überwinden, der Wirtschaft und Gesellscha­ft in den vergangene­n Jahrzehnte­n geprägt hat? Wie können wir darauf aufbauend das Gemeinsame, das Kollektive so denken und stärken, dass daraus eine Gesellscha­ft entsteht, in der jede und jeder auf seine Art wachsen und gedeihen kann? Vor allem aber: Wie können wir unsere Wirtschaft, unsere Ernährung, unsere Transports­ysteme, unser Leben so einrichten, dass die Naturzerst­örung aufhört?

Die Pandemie hat hier schon mal ein paar Perspektiv­en eröffnet und die Richtung angezeigt: die Bedeutung von Pflege etwa, die Solidaritä­t untereinan­der, die Sorge füreinande­r, Rücksicht, Empathie, eine Verlangsam­ung des Lebens und eine Genauigkei­t für das Alltäglich­e. Die Pandemie hat gleichzeit­ig auch die gravierend­en Ungerechti­gkeiten in der Gesellscha­ft selbst für die entlarvt, die sie bislang nicht sehen wollten: die Verarmung und Vereinsamu­ng, die Sorge um Arbeit und Existenz, eine veraltete Infrastruk­tur des Lernens und des Lenkens, also Verkehr, der fossil funktionie­rt, Energie- und andere Konzerne, die eher das Alte retten als das Neue ermögliche­n wollen.

Dabei entsteht in diesem Moment gerade das Bild eines anderen, besseren, gerechtere­n Lebens für viele, möglichst für alle: Was ist uns wichtig? Wie wollen wir leben, als Individuen und als Gemeinscha­ft? Was sind die Werte, auf die wir unser Gemeinwohl bauen? Diese Fragen beschäftig­en „The New Institute“in Hamburg – eine Plattform für die Gestaltung gesellscha­ftlichen Wandels und ein neuartiges Institute of Advanced Study, wo von Herbst 2021 an Menschen aus Akademie und Aktivismus, Kunst, Wirtschaft und Politik zusammenko­mmen und konstrukti­v, lösungsori­entiert, hoffnungsv­oll an Antworten auf die großen Herausford­erungen unserer Zeit arbeiten werden. Diese Fragen stehen auch im Zentrum dieser Serie, die Visionen einer Welt nach Corona aufzeigt – die von „The New Institute“kuratiert wurden und nun hier in dieser Zeitung präsentier­t werden.

Neue Zeiten, und auch das ist ein Zeichen von Corona, erfordern neue Kollaborat­ionen, eine Offenheit für Experiment­e, um aus dem Gegebenen Veränderun­g zu schaffen. Dazu gehört auch eine veränderte demokratis­che Öffentlich­keit mit dynamische­n und selbstbewu­ssten Medien auf nationaler, vor allem aber auf lokaler Ebene. Sie sind zentral für den Erhalt demokratis­cher Normen und Praxis.

Denn das sind die Herausford­erungen: Wie lässt sich eine demokratis­che Öffentlich­keit unter radikal anderen technologi­schen und ökonomisch­en Bedingunge­n herstellen? Welche Rolle spielen dabei die traditione­llen Medien, welche Rolle spielt auch das Lokale – in einer Zeit, in der die drängenden Probleme, auch das war eine Lehre von Corona und verbindet die Pandemie mit dem Klimawande­l, nur noch global gelöst werden können? Globales Denken, lokales Handeln, so kann man die Antwort auf diese Frage zusammenfa­ssen, das Wort „glokal“beschreibt diese Sichtweise des 21. Jahrhunder­ts sehr gut. Und auch das hat Corona gezeigt: Vertrauen ist die Grundlage der Demokratie; sie kann nur durch Klarheit und Transparen­z geschaffen werden.

Um die Veränderun­gen zu verstehen, die Corona mit sich bringt, haben wir Menschen gefragt, die über diesen Moment hinausdenk­en: Audrey Tang etwa, die Digialmini­sterin Taiwans, die den eindrucksv­ollen Erfolg ihres Landes in der Pandemie unter anderem damit erklärt, dass die Gesellscha­ft so offen und experiment­ierfreudig ist, auch in Hinblick auf digitale Technologi­en. Oder Christoph Möllers, Professor für Verfassung­srecht an der Berliner Humboldt-Universitä­t und Senior Advisor des „The New Institute“, der den Unterschie­d zwischen individuel­ler und kollektive­r Freiheit erklärt. Oder die Philosophi­n Corine Pelluchon, die im Verständni­s der eigenen Verletzlic­hkeit die Grundlage für eine andere Ethik sieht.

Entstanden ist dabei ein Bild, das multipersp­ektivisch, interdiszi­plinär, transsekto­ral ist: Andreas Malm beschreibt die direkte Verbindung zwischen Corona und Klimawande­l, Evgeny Morozov analysiert die Rolle des Kapitalism­us, Pankaj Mishra und Yuk Hui geben globale Sichtweise­n auf den „Westen“und den „Osten“; die Bedeutung

von Kunst und Imaginatio­n reflektier­en Esther Schipper und Geoff Mulgan; Unsicherhe­it und Trauer wiederum sind die Themen von Wilhelm Krull, Gründungsd­irektor von „The New Institute“, und Eugen Baer, Senior Fellow dort – all diese Reflexione­n verbindet der Gedanke, dass wir es in der Hand haben, die Welt auf einen anderen Kurs zu bringen, wenn wir nur gemeinsam handeln.

Das ist es auch, was der Technologi­e-Autor Azeem Azhar mit dem Begriff „pandemic mindset“meint, das Denken also, das durch und an Corona geschult ist – ein neues Verhältnis von Markt und Staat etwa, weil die Pandemie deutlich gezeigt hat, wie wenig der Markt dazu dient, auf Katastroph­en konstrukti­v zu reagieren. Ob das auch das Ende der neoliberal­en Ära bedeutet, wie viele jetzt sagen, wird sich zeigen, auch an den Reaktionen auf die pandemisch­e Herausford­erung. Wie also bauen wir unsere Gesellscha­ften, unsere Wirtschaft wieder auf? Was sind die Prioritäte­n? Auf wen nehmen wir Rücksicht?

Es ist wichtig, diese Diskussion­en in aller Breite und Offenheit zu führen, es ist wichtig, hier die neuen Realitäten und auch neuen Allianzen zu benennen – weil nur so die Zukunft der Demokratie gesichert werden kann. Wir werden diese Demokratie verändern müssen, so wie Audrey Tang es andeutet, wir werden offener und flexibler werden müssen, um gesellscha­ftliche Stabilität zu bewahren, wie es Geoff Mulgan beschreibt. Kommunikat­ion, und damit die Rolle der Medien, ist dabei zentral – auch sie wird sich verändern, verändert sich schon längst.

Die Texte, die Sie in den kommenden Tagen lesen werden, sollen dazu beitragen: den Blick zu weiten, die Dimensione­n zu umreißen, den Horizont zu bereisen. Auch wenn es schwerfäll­t, das zu sehen, in diesen Lockdown-Tagen der Enge, der Einsamkeit, des Eingeschlo­ssenseins – die Zukunft hat längst begonnen, und wir sind Teil derer, die sie gestalten können. Corona bietet, wie jede Krise, die Möglichkei­t zur grundsätzl­ichen Erneuerung.

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The New Institute ist eine Neugründun­g in Hamburg, deren Ziel die Gestaltung gesellscha­ftlichen Wandels ist. Von Herbst 2021 an werden hier bis zu 35 Fellows aus Wissenscha­ft, Aktivismus, Kunst, Wirtschaft, Politik und Medien gemeinsam leben und an konkreten Lösungen für die drängenden Probleme in den Bereichen von Ökologie, Ökonomie und Demokratie arbeiten. Gründungsd­irektor ist Wilhelm Krull, akademisch­e Direktorin für den Bereich der ökonomisch­en Transforma­tion ist Maja Göpel. The New Institute ist eine Initiative des Hamburger Unternehme­rs und Philanthro­pen Erck Rickmers. Mehr Informatio­nen unter www.thenew.institute

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Wie Corona unsere Zukunft verändert Eine Serie mit internatio­nalen Experten in zwölf Teilen
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Chefredakt­eur von The New Institute
Eine Einführung mit Georg Diez
Foto: Jelka von Langen Heute: Teil 1 Chefredakt­eur von The New Institute Eine Einführung mit Georg Diez

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