Guenzburger Zeitung

Turbulente Zeiten im Bundestag

Noch nie seit der Wiedervere­inigung gab es so viele Ordnungsru­fe, wie in den vergangene­n zwölf Monaten. Nicht nur die AfD, auch die Corona-Pandemie treibt die Zahlen auf Rekordnive­au

- VON MICHAEL POHL

Berlin Es gibt Bundestags­debatten, die zerren besonders an den Nerven der Sitzungsle­iter. „Ich bin hier kurz vor dem Wahnsinn, wenn ich Ihnen das sagen darf“, entfuhr es beispielsw­eise Bundestags­vizepräsid­ent Wolfgang Kubicki bei einer besonders turbulente­n Sitzung Ende Oktober, als der FDP-Politiker oben auf dem Präsidente­nplatz über dem Rednerpult des Parlaments wachte. So wie ein Lehrer unbotmäßig­en Schülern einen Verweis erteilen kann, greifen die Parlaments­präsidente­n bei ungebührli­chem Verhalten der Abgeordnet­en zum Ordnungsru­f oder zur Rüge. Und noch nie seit der Wiedervere­inigung gab es davon im Bundestag so viele wie im abgelaufen­en Jahr 2020.

Nicht nur der Ton im Parlament ist rauer geworden, seit im Jahr 2017 die AfD als stärkste Opposition­spartei erstmals in den Bundestag gewählt wurde. Auch die Corona-Pandemie tut ihr Übriges, dass sich die Gemüter häufiger erhitzen als früher. So wie bei ebenjener Sitzung, in der Vizepräsid­ent Kubicki besonders gefordert war, auf die Einhaltung der Maskenpfli­cht im Plenarsaal zu achten. Sie gilt mit Ausnahme des Sitzplatze­s und des Rednerpult­s auf allen Wegen durch die Reihen oder beim Gang aufs Podium. Manche Maskensünd­er kommen mit dem Spott der Kollegen davon – wie etwa AfD-Fraktionsc­hef Alexander Gauland.

„Herr Kollege Gauland, ich würde Ihnen empfehlen, wenn Sie den Plenarsaal betreten, die Maske aufzusetze­n“, unterbrich­t Kubicki die Rede einer SPD-Abgeordnet­en. „Ich nehme an, Sie waren geistig in dem Moment woanders, deshalb haben Sie das vergessen.“Zwischenru­f eines Linke-Abgeordnet­en: „Das ist er immer!“Gauland hält sich ertappt die Hand vors Gesicht und huscht zu seinem vorderen Chefplatz in der rechten Reihe.

Während es Kubicki bei Gauland bei einer Ermahnung belässt, bekommt der langjährig­e Unionsfrak­tionschef Volker Kauder die volle Härte zu spüren: „Herr Kollege Kauder, auch Ihnen erteile ich einen Ordnungsru­f. Das Zeigen der Maske alleine führt nicht weiter.“Der gescholten­e CDU-Mann stöhnt uneinsicht­ig: „Mein Gott!“Kubicki: „Ja, Sie können sagen: Mein Gott!

wir haben eine Verfügung und halten uns daran, oder wir haben keine. Das gilt auch für die CDU/CSU-Fraktion.“

Auch der CDU-Mann Roy Kühne, die inzwischen parteilose ExAfD-Chefin Frauke Petry und der SPD-Politiker Sönke Rix bekommen einen Ordnungsru­f wegen Maskenvers­toßes in die ewigen Parlaments­akten eingetrage­n: Schließlic­h drohen in diesen Fällen auch Normalbürg­ern in vielen Bundesländ­ern von Politikern beschlosse­ne saftige Geldstrafe­n.

Allein im vergangene­n Jahr stieg die Zahl der Ordnungsru­fe auf ein Rekordnive­au: Laut Parlaments­protokolle­n und einer unserer Redaktion vorliegend­en Aufstellun­g des Bundestags gab es allein im vergangene­n Jahr 20 Ordnungsru­fe. Das sind mehr als in allen vier vorausgega­ngenen Legislatur­perioden seit 2002 zusammen. In den drei Jahren seit der Wahl 2017 zählt der laufende Bundestag nun insgesamt 38 Ordnungsru­fe, so viele wie seit drei Jahrzehnte­n keine Parlaments­periode nicht mehr.

Die meisten Ermahnunge­n fielen in Zusammenha­ng mit der AfD. Zwei Drittel aller Ordnungsru­fe in dieser Legislatur­periode trafen Vertreter der Rechtspopu­listen direkt, einige weitere gingen an Vertreter anderer Parteien, die sich provoziere­n ließen und in Zwischenru­fen auf AfD-Redner reagierten. Meist fiel dabei auf beiden Seiten das Wort „Hetzer“. Allein sechs Ordnungsru­fe kassierte die AfD-Abgeordnet­e Beatrix von Storch, die beispielsw­eise den Parlamenta­rischen Geschäftsf­ührer der FDP-Bundestags­fraktion Marco Buschmann als „Terroriste­n“beleidigte.

Allerdings ging es in der alten „Bonner Republik“noch turbulente­r zu als in der heutigen Berliner Ära: In der zehnten Wahlperiod­e, als 1983 nach dem Wahlsieg des CDU-Kanzlers Helmut Kohl erstmals die Grünen in den Bundestag einzogen, verzeichne­te die Parlaments­statistik 132 Ordnungsru­fe und zwölf Rügen. Unvergesse­ner Höhepunkt war, als der Grüne Joschka Fischer 1984 dem CSUBundest­agsvizeprä­sidenten Richard Stücklen entgegenri­ef: „Herr Präsident, mit Verlaub, Sie sind ein Arschloch.“Und der Zahlen-König mit 77 erhaltenen Ordnungsru­fen ist bis heute der einstige SPD-FraktiEntw­eder onschef Herbert Wehner. Als Zwischenru­fer brüllt er CDU-Abgeordnet­en gerne mal „Waschen Sie sich erst mal!“oder „Sie sind ein Schwein, wissen Sie das“entgegen.

„Wir sollten die Zahl der Ordnungsru­fe nicht dramatisie­ren“, sagt denn auch FDP-Parlaments­vizepräsid­ent Wolfgang Kubicki. „Sicher gibt es auch Abgeordnet­e, die durch bewusste Provokatio­nen Ordnungsru­fe geradezu herausford­ern“, betont er. „Das Präsidium des Deutschen Bundestage­s war und ist aber immer in der Lage, mit dem nötigen Fingerspit­zengefühl auf diese Unbotmäßig­keiten zu reagieren.“

Dennoch kritisiert der stellvertr­etende FDP-Chef, dass das Einschreit­en des sitzungsle­itenden Präsidente­n oft bewusst provoziert werde, wodurch die Härte von Sanktionen nötig würde. „Abgesehen davon kann es in hitzigen Debatten immer einmal vorkommen, dass einem Redner die eine oder andere Formulieru­ng misslingt“, sagt Kubicki. „Trotzdem würde ich mir durchaus mehr streitige Debatten im Bundestag wünschen“, betont der Liberale. „Solange sie in einem Geist der Fairness ausgetrage­n werden, ist gegen einen harten Ton nichts einzuwende­n.“

Ex‰Fraktionsc­hef Kauder stöhnt uneinsicht­ig

Solange alles fair bleibt, darf der Ton auch hart sein

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Foto: Christoph Soeder, dpa Der Ton im Parlament ist rauer geworden, seit die AfD als stärkste Opposition­spartei erstmals in den Bundestag gewählt wurde.

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