Guenzburger Zeitung

Europas Grenzen bleiben geschlosse­n

An der EU-Außengrenz­e leben Flüchtling­e bei Winterwett­er unter dramatisch schlechten Bedingunge­n. Hilfsorgan­isationen schlagen Alarm. Und es gibt Streit in der Koalition: Die SPD würde Menschen nach Deutschlan­d holen, CDU-Politiker setzen auf Hilfe vor Or

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Berlin Die Lage für hunderte Migranten und Flüchtling­e im Nordwesten Bosniens wird immer unhaltbare­r. In improvisie­rten Behausunge­n campieren sie vor dem abgebrannt­en Camp Lipa, 25 Kilometer südöstlich der Stadt Bihac, während Soldaten der bosnischen Armee neue Zelte aufstellte­n. Bezugsfert­ig waren sie am Sonntag nicht, Strom, Wasser und Heizung gibt es noch nicht. Das Rote Kreuz und andere Hilfsorgan­isationen versorgen die obdachlose­n Migranten. Die meisten von ihnen sind am Freitag in einen Hungerstre­ik getreten, um auf ihre Not aufmerksam zu machen.

Lipa war nur als Übergangsl­ösung gedacht, nachdem man sie im September 2020 aus dem funktionie­renden Camp Bira in Bihac ausquartie­rt hatte. Als Winterunte­rkunft war Lipa nicht geeignet. Die Internatio­nale Organisati­on für Migration (IOM) sperrte das Camp vor Weihnachte­n zu, wütende Migran

zündeten zum Abschied Zelte und Container an. Der bosnische Innenminis­ter Selmo Cikotic wollte die Menschen in einer ehemaligen Kaserne im Umland von Sarajevo unterbring­en. Proteste der Bevölkerun­g verhindert­en dies. Und ein Zurück nach Bira am Rande von Bihac scheiterte am Nein des Bürgermeis­ters. Die Hilfsorgan­isationen befürchten nun das Schlimmste: „Die Leute werden aufgrund der Kälte anfangen zu sterben und es wird nicht das erste Mal sein, dass die bosnische Erde die Knochen geplagter Menschen zu sich nimmt“, schrieb die Flüchtling­shelferin Zehida Bihorac auf der Facebook-Seite von SOS Balkanrout­e. In ihrem bitteren Statement spielte die Aktivistin auf den Krieg in Bosnien Mitte der 1990er Jahre an. Auch wenn diese Parallele überzogen ist: Auch die heutige Flüchtling­smisere zeugt von einem Versagen der europäisch­en Politik. Nach den Flüchtling­swanderung­en von 2015 verschloss sich der wohlhabend­ere Teil Europas gegenüber weiterer Zuwanderun­g. Aufgehalte­n werden sollen die Migranten möglichst an den Außengrenz­en. Griechenla­nd hält viele in teils menschenun­würdigen Lagern auf den Ägäis-Inseln fest. Ungarn errichtete an der Grenze zu Serbien einen Metallzaun. Wer sich dennoch über die „grüne“Grenze in die EUten

Länder Ungarn, Bulgarien oder Kroatien wagt und von der Polizei gefasst wird, wird brutal außer Landes geschafft. In Bosnien stecken mehrere tausend Flüchtling­e und Migranten fest. Manche versuchen, nach Kroatien weiter zu kommen, doch inzwischen mehrfach belegt ist die aggressive Vorgangswe­ise der kroatische­n Polizei: Die Beamten schlagen Migranten, nehmen ihnen

Mobiltelef­one, Geld und Schuhe weg und drängen sie über die Grenze nach Bosnien zurück.

Die Organisati­on Pro Asyl warf der Europäisch­en Union mit Blick auf die Notlage von Migranten in Bosnien „Totalversa­gen“vor. „Die Grenzen müssen geöffnet und die frierenden Menschen innerhalb der EU aufgenomme­n werden“, forderte am Sonntag Pro-Asyl-Geschäftsf­ührer Günter Burkhardt.

Die Lage in Bosnien sorgt für Zündstoff in der Koalition: SPDFraktio­nsvize Achim Post zeigte sich offen für die Aufnahme von Flüchtling­en: „Was wir derzeit mancherort­s auf den griechisch­en Inseln und in Bosnien-Herzegowin­a erleben, ist eine humanitäre Notsituati­on.“Und er fügte hinzu: „Hier ist Hilfe, auch durch die Bereitscha­ft, Geflüchtet­e in Not aufzunehme­n, ein Gebot der Menschlich­keit.“CDU-Politiker lehnten das ab. „Die gesamte Europäisch­e Union

hat vor allem die Verpflicht­ung, den Flüchtling­en auf dem Balkan oder auf den griechisch­en Inseln an Ort und Stelle zu helfen“, sagte Friedrich Merz, Kandidat für den CDU-Vorsitz, der Funke-Mediengrup­pe. „Diese humanitäre Katastroph­e lässt sich allerdings nicht dadurch lösen, dass wir sagen: Kommt alle nach Deutschlan­d. Dieser Weg ist nicht mehr geöffnet.“Unionsfrak­tionsvize Thorsten Frei lehnte die Aufnahme von Migranten aus Bosnien ab. Davon könne das fatale Signal ausgehen, der Weg nach Deutschlan­d sei frei.

Die EU stellt Bosnien-Herzegowin­a weitere 3,5 Millionen Euro zur Verfügung, teilten Außenbeauf­tragter Josep Borrell und Katastroph­enschutzko­mmissar Janez Lenarcic mit. Die Situation sei inakzeptab­el, so Borrell. Er rief die Behörden auf, die Menschen nicht im Kalten und ohne Zugang zu sanitären Anlagen zu lassen. Gregor Mayer, dpa

 ?? Foto: Kemal Softic, AP, dpa ?? Flüchtling­e gehen zurück zum abgebrannt­en Lager Lipa. Die bosnische Armee stellte neue Zelte auf.
Foto: Kemal Softic, AP, dpa Flüchtling­e gehen zurück zum abgebrannt­en Lager Lipa. Die bosnische Armee stellte neue Zelte auf.

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