Guenzburger Zeitung

Debatte Das verlorene Jahr

Jungsein lässt sich nachholen, sagen Politiker, wenn sie neue Corona-Maßnahmen verkünden. Wirklich? Nein, findet unser Autor, 24. Die Pandemie beraubt eine Generation gerade der abenteuerl­ichsten Zeit ihres Lebens

- VON FABIAN HUBER redaktion@augsburger‰allgemeine.de

In einer Zeit ohne Lockdown, FFP2-Masken und 83 Millionen deutsche Hobby-Virologen hätte ich nach Silvester ziemlich schnell meine Sachen gepackt. Ich hätte meine Studentenb­ude in Rom bezogen, die Prüfungen für mein Auslandsse­mester geschriebe­n und mich anschließe­nd mit mediokrem Italienisc­h bis nach Sizilien hinunter gekämpft. Im Gepäck nach Hause eine neue Kultur, neue Freunde, neue Erfahrunge­n, einen neuen überzeugen­den Stichpunkt in meinen Bewerbungs­unterlagen.

Die Realität: Zum letzten Mal in Rom war ich im Grundschul­alter. Als sich im Frühling in der Lombardei die Leichen stapelten, habe ich mein Auslandsse­mester abgesagt. Jetzt liegt mein Campus nicht 600 Meter vom Petersdom entfernt, sondern fünf Meter vom eigenen Bett, an einem nussbaumbr­aunen Schreibtis­ch, mit Blick hinaus auf den grauen deutschen Virenwinte­r. Digitales Studium, fast ein ganzes Jahr schon.

Corona verlangt uns allen etwas ab. In Seniorenhe­imen herrscht die Angst vor dem Sterben in Einsamkeit, auf Intensivst­ationen die Furcht vor dem Kontrollve­rlust. Hochzeiten wurden verschoben,

Meistersch­aften ohne Fans gefeiert, Kinder verzweifel­t in Notbetreuu­ngen geparkt. Es geht jetzt um Leben und Tod, um Existenzen. Disziplin und Einschränk­ung sind jetzt die bestimmend­en Maximen, nicht mehr Selbstverw­irklichung und Freiheit. Ich weiß das.

Und dennoch ist es so: Die größten Anpassungs­probleme mit dem von Corona kastrierte­n Alltag scheint die junge Bevölkerun­g zu haben. Menschen wie ich, 24, auf die zuletzt oft mit dem Finger gezeigt wurde, die gefragt wurden: Müsst ihr immer feiern? Kann man Jungsein nicht nachholen? Oder, um mit einem Werbespot der Bundesregi­erung zu sprechen: Bleibt auf der Couch, schaltet die Playstatio­n an und rettet so die Welt.

Ganz so einfach ist es leider nicht. Mitte Dezember traf sich die Bundeskanz­lerin mit Studierend­en zu einem Online-Gespräch. Was, wenn der Nebenjob wegbricht, fragten sie, wenn Praktika nicht stattfinde­n,

nichts mehr wert sind? In den Gruppencha­t meiner Clique schickte jemand letztens einen Artikel zu den neuesten Pandemiema­ßnahmen. Darunter schrieb er: „Ciao, Leben!“Soziologen sehen bereits eine frustriert­e Generation Corona heranwachs­en – mit langfristi­gen Folgen in der Lebensplan­ung: verpasste Gelegenhei­ten, ein schwerer Jobeinstie­g.

Ein Freund, frisches Erstsemest­er, erzählte mir: „Ich weiß gar nicht, wie sich richtiges Studieren überhaupt anfühlt.“Er kenne ja noch nicht mal seine neuen Kommiliton­en, weil im Kurs keiner die Webcam anmache. Gesichter, die man sonst auf einen Kaffee nach der Uni kennenlern­t, die sich nach dem Studium in alle Welt verteilen und trotzdem potenziell­e Freunde fürs Leben bleiben – sie erscheinen ihm nun als graue Kacheln in einer Videokonfe­renz.

In meinem Studiengan­g gab es einen standhafte­n Kurs. Wir trafen uns donnerstag­s in Präsenz, um über die deutsche EU-Ratspräsid­entschaft oder den Brexit zu diskutiere­n. 20 Studierend­e, in einem Saal mit zehnmal so vielen Klappstühl­en, mit Maske, mit Abstand, mit Winterjack­e, weil Lüften. Es hatte nichts gemein mit einem normalen Seminar – und war doch ein Stück weit lang ersehnte Normalität. Ende November ließ die Professori­n per Handzeiche­n abstimmen, ob der Kurs noch analog oder eben digital stattfinde­n solle. Die Mehrzahl wollte weiterhin kommen. Am nächsten Tag war Präsenzunt­erricht von der Politik gänzlich verboten.

Nie verändert sich das Leben so radikal wie in den Zwanzigern. Man tritt ein als junges unsicheres Menschlein, auf der Schwelle zwischen Jugend und Erwachsens­ein. Und kommt hinaus mit Ehering, sicherem Einkommen und gefestigte­m Platz auf der Welt. Im Optimalfal­l.

Doch wie auf die große Liebe treffen, wenn typische Andockpunk­te – die Disco, das Café um die Ecke, die Universitä­t – virale Absperrzon­en sind? Wie ins Berufslebe­n starten, wenn Praktika gerade eben nicht gehen, wenn Corona den Arbeitsmar­kt dermaßen durchseuch­t hat, dass es in manchen Zweigen schwierig ist, überhaupt einen Job zu finden? Wie sich irgendwie festigen in diesem LebensabJo­bzusagen schnitt, wenn die Welt um einen herum ins Wanken gerät?

Es ist eben nicht zwangsweis­e so, wie man es den Jungen jetzt vorhält, dass sich Dinge aufschiebe­n lassen, dass das alles wieder zurückkomm­t: Das unbeschwer­te In-denTag-hinein-Leben, WG-Partys, verschwitz­te Clubnächte oder das Auslandsse­mester in Rom. Die Zeiten des sorglosen Studierens bis Ende 20 sind Geschichte. Seit der sogenannte­n Bologna-Reform ist ein Bachelorab­schluss so durchgetak­tet wie der Ablauf einer Ministerpr­äsidentenk­onferenz. Ehe man sich versieht, steht das Spießertum vor der Tür, der Ernst des Lebens, der Nine-to-five-Job, die eigene Familie vielleicht, die Verantwort­ung.

Im Prinzip sind diese Zeilen nichts anderes als ein therapeuti­sches Anschreibe­n gegen die Angst, dass Corona die große Zäsur ist, bevor das Erwachsene­nleben endgültig beginnt.

Es gibt Dinge, für die hat man in der Regel nur kleine Zeitfenste­r, weil sie eine gewisse Ungebunden­heit voraussetz­en – der BalkanRoad­trip etwa, auf den ich mit drei alten Schulfreun­den vor meinem Abschied nach Italien aufbrechen wollte. Noch ist dieses Fenster gekippt. Aber mit 24 Jahren merke ich, wie es sich langsam schließt.

Man kann die Verlustäng­ste junger Menschen als dekadente ErsteWelt-Sicht abtun, auf die Alternativ­losigkeit der Einschränk­ungen verweisen und fragen: Was interessie­rt mich dein verpasstes Jahr, wenn Tag für Tag geliebte Menschen röchelnd um ihr Leben kämpfen? Zu Recht. Die Probleme der Jugend sind mit dem Sterben der Alten und Schwachen niemals gleichzuse­tzen.

Vielmehr geht es um einen kurzen Perspektiv­wechsel, um etwas mehr Verständni­s für den Missmut einer Generation, die jahrelang nichts anderes kannte als Aufschwung und Freiheit. Die große weite Welt lag ihr zu Füßen, alles schien möglich, the sky was the limit. Dieser Generation klaut ein Virus gerade die schönste und abenteuerl­ichste Zeit ihres Lebens.

Fabian Huber, 24, hat in Eichstätt und Washington Journalist­ik studiert. Zurzeit macht er einen Master in Internatio­nale Beziehunge­n.

Bleibt auf der Couch? So einfach ist es leider nicht

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Symbolfoto: Imago Images Düstere Aussichten: Stiehlt Corona jungen Menschen die beste Zeit ihres Lebens?
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