Die CSU kann Kanzler – aber will sie auch? Leitartikel
Je länger die Corona-Pandemie dauert, desto öfter wird Markus Söder als Kanzlerkandidat von CDU und CSU ins Spiel gebracht
Noch ein Dreivierteljahr ist es bis zur Bundestagswahl, aber der Wahlkampf hat schon begonnen. Die aktuelle Auseinandersetzung um den CoronaImpfstoff jedenfalls ist nur zum kleineren Teil den Fakten geschuldet. Vor allem geht es einigen Spitzenkräften bei Union und SPD darum, sich bei Wählerinnen und Wählern schon mal in Position zu bringen. Der Burgfriede der letzten Monate, der angesichts der Notlage eine selbstverständliche Notwendigkeit war und es eigentlich auch weiterhin sein sollte, ist gebrochen. CSU-Chef Markus Söder mischt in der Impf-Debatte und bei vielen anderen Corona-Themen vorne mit. Es wäre vorschnell, daraus auf eine Kanzlerkandidatur des Ministerpräsidenten zu schließen.
Derzeit strotzt die CSU auf Bundesebene vor Kraft. Parteichef Söder
hat gute Umfragewerte. Er rangiert mal direkt hinter der Spitzenreiterin Angela Merkel, mal ist er ein wenig mehr von der Kanzlerin entfernt, hält sich aber immer auf Schlagdistanz. Kaum ein anderer Ministerpräsident ist in den letzten Monaten so oft im Kanzleramt einund ausgegangen wie Söder. Nur wenige Talkshows wollen ohne ihn auskommen, bei den Nachrichtensendungen scheint er der Lieblingsgast zu sein.
Die Kraft der CSU speist sich auch aus der Schwäche der CDU. Die Christdemokraten wissen zwar schon seit Monaten, dass sie bald auf ihre Leitfigur verzichten müssen, haben aber immer noch keinen angemessenen Nachfolger für Angela Merkel gefunden. Am 16. Januar wird zwar ein neuer CDUVorsitzender gewählt, das Vakuum ist damit aber nicht beseitigt. Alle drei Bewerber – Armin Laschet, Friedrich Merz oder Norbert Röttgen – wissen, dass sie die Fußstapfen von Merkel nicht vom Fleck weg ausfüllen können. Entsprechend kritisch wird ihre Kanzler-Eignung betrachtet werden.
Für die CSU ist diese Konstellation eine Chance, nach 1980 mit Franz Josef Strauß und 2002 mit Edmund Stoiber ein drittes Mal einen Kanzlerkandidaten aufzustellen und womöglich sogar durchzubringen. An Selbstbewusstsein mangelt es der Partei dabei nicht. „Die Christlich-Soziale Union ist in dieser Zeit der Garant für Stabilität in unserem Land“, schrieb Söder gerade im
Jubiläumsmagazin zum 75-jährigen Bestehen der Partei. Aber Politik ist nicht nur eine Frage des Könnens, sondern viel öfter noch eine Frage der Abwägung, und da schlägt das Pendel eher nicht in Richtung Kandidatur.
Die CSU müsste in Berlin Koalitionsverhandlungen gegebenenfalls mit den Grünen führen, was in Bayern wiederum auf nicht unerhebliche Skepsis bei vielen Mitgliedern stoßen würde. Eine andere
Frage wäre, was aus der CSU werden würde, zöge sie ins Kanzleramt ein? Ihr Selbstbild als Regionalpartei mit bundespolitischem Anspruch – von Strauß einst mit den Worten umschrieben, dass in Bonn die Kapelle, in München aber die Kathedrale stehe – müsste für diesen Fall neu gemalt werden.
Außerdem gilt, dass Söder den Kanzlerkandidaten der Union erst küren will, wenn die Pandemie abgeklungen ist. Corona wäre dann zwar noch nicht Geschichte, aber es gäbe wieder Platz für andere Themen. Die Flüchtlingsfrage zum Beispiel, bei der Söder in der Vergangenheit durchaus unterschiedliche Positionen einnahm. Was Anlass zu bohrenden Nachfragen gäbe. Außerdem droht ihm mit dem Wegfall der Pandemie als bundesweites Thema die regional differenzierte Wahrnehmung, unter der schon Strauß und Stoiber zu leiden hatten. Mindestens im Norden der Republik würde der bayerische Riese wieder auf Normalmaß schrumpfen. Kleiner werden würde damit auch die derzeitige Euphorie über die CSU als mögliche Kanzlerpartei.
Politik ist auch eine Frage der Abwägung