Reisen als Lebensweg
Mit Michael Roes unterwegs im Geiste
Vielleicht ist es ja eine gute Zeit, mal grundsätzlich über das Reisen nachzudenken. Mit dem Buch von Michael Roes geht das hervorragend, auch als reiner Gedankentrip anregend. Und damit geht es ja schon los. Reisen und Tourismus – das sind zweierlei Stiefel. Reisen fordert den ganzen Menschen, ist verbunden mit Strapazen und kann mit großen Enttäuschungen verbunden sein. Der Tourismus dagegen verspricht die heile Welt, die Sicherheit mit Netz und doppeltem Boden und natürlich Glücksgefühle.
Der Autor und Filmemacher Roes definiert sich als Reisender. Darum nimmt er auch nicht mit zu den Zielen des Massentourismus – auch in Marokko oder Tunesien lässt er sich auf eine Nähe ein, die so riskant ist wie seine Reisen durch Afghanistan, im Jemen oder in Mali. In „Melancholie des Reisens“überlagert seine Gedankenwelt immer öfter auch die Realität vor Ort.
Denn für Roes ist Reisen immer auch verbunden mit der Suche nach Wahrheit und den eigenen Grenzen. Er reist Menschen nach, die ihn inspiriert haben: die Dichtern Rimbaud und Bowles etwa. Zitate aus deren (Tage)Büchern stehen zwischen den eigenen Betrachtungen, die jetzt in Corona-Zeiten fast prophetisch klingen: „Die Fremde liebt den Reisenden nicht. Sie wehrt sich gegen ihn, bekämpft ihn, isoliert ihn, stellt ihn unter Quarantäne, eliminiert ihn. Die Rituale der Gastfreundschaft sind Strategien der Einhegung und Kontrolle. Und die Fremde hat ja nicht unrecht, den Besucher als Virus, als Infektionsherd zu betrachten.“
Auch Roes ist gern philosophisch: „Alle wahren Reisenden erkennen auf ihren Streifzügen, dass sie im Grund immer nur sich selbst begegnen.“Die Fremde bleibt für ihn „per definitionem unaufsuchbar“. Gedanken, die ihm in durchschwitzten, durchlittenen Nächten kommen. Denn er reist mit vollem Einsatz und weiß am Ende: „Alle Reisen führen uns schließlich zu uns selbst. Und verfehlen uns. Zum Glück. Timbuktu ist unser Lebensziel, das unerreichbar bleiben muss. Würden wir je hingelangen, wir fänden dort keine Antwort. Und doch wäre es das Ende unserer Reise. Timbuktu ist der Tod.“Das Reisen dagegen ist „die höchste Form der Lebendigkeit. Denn das Leben selbst ist ja Reise, Lebensreise“. Lilo Solcher
Schöffling & Co, 532 S., 28 ¤