Selma Lagerlöf: Der Fuhrmann des Todes (22)
Silvesternacht. Stark alkoholisiert bricht David auf einem Friedhof zusammen. Der Volksmund weiß: Der letzte Tote eines Jahres wird als Fuhrmann des Todes für zwölf Monate die Seelen Sterben der erlösen müssen. Eine Schauergeschichte mit sozialem Appell der ersten Literaturnobelpreisträgerin.
Ich hörte mit unbeschreiblicher Angst zu. Keinem der anderen konnte der Auftritt so qualvoll sein wie mir, denn ich liebte ja den Mann, der diese Schandtat beging. Da stand ich und hoffte immer noch, die Damen würden das richtige ihn erweichende Wort finden, aber ein sonderbarer Bann hielt mich gefangen, und ich konnte nicht von der Stelle.
,Ach, was hilft das Streiten und Überredenwollen? Einem Mann wie David Holm muß man Angst einjagen,‘ dachte ich. Weder die Frau noch die beiden fremden Damen sagten ein Wort von Gott, keine drohte ihm mit dem Zorn des ewig Gerechten. Mir war als hätte ich den strafenden Blitz in meiner Hand, aber ich konnte ihn nicht fortschleudern.
Plötzlich wurde es ganz still im Zimmer, und die beiden vornehmen Damen standen auf, um zu gehen. Sie hatten nichts erreicht, so wenig wie die Frau. Diese stritt nicht mehr, sie war verzweifelt zusammengesunken.
Noch einmal machte ich eine übermenschliche Anstrengung, um mich zu bewegen und zu reden. Die Worte brannten mir auf der Zunge.
,O du Heuchler!‘ wollte ich sagen. ,Meinst du, ich sehe nicht, was du denkst und beabsichtigst? Ich, die am Sterben ist, ich lade dich vor Gottes Richterstuhl, mit mir sollst du dort erscheinen. Ich klage dich vor dem höchsten Richter an, deine eigenen Kinder ermorden zu wollen. Ich werde gegen dich zeugen.‘
Aber als ich mich aufrichtete, um dies zu sagen, war ich nicht mehr in David Holms Wohnung, sondern hier in meinem Zimmer und lag kraftlos in meinem Bett. Und seither hab ich gerufen und gerufen, David Holm aber ist nicht gekommen!“
Die Heilsarmeeschwester hatte, während sie all dies erzählte, mit geschlossenen Augen dagelegen. Jetzt schlug sie diese weit auf und sah Georg mit unbeschreiblicher Angst an.
„Du kannst mich doch nicht sterben lassen, ehe ich mit ihm geredet habe?“sagte sie flehend. „Denk an die Kinder und an die Frau!“
Der am Boden liegende Schemen verwunderte sich über Georg. Er hätte die Sterbende ja mit einem Wort beruhigen können, indem er ihr gesagt hätte, David Holm habe ausgespielt und könne seiner Frau und seinen Kindern keinen Schaden mehr zufügen; aber er hielt mit dieser Nachricht zurück. Statt dessen entmutigte er sie noch mehr.
„Was könntest du für eine Macht über David Holm haben?“fragt er. „Er ist nicht der Mann, der sich erweichen läßt. Was du heute gesehen hast, ist nur die Rache, die er sich seit Jahren ausgedacht und auf die er sich die ganze Zeit über gefreut hat.“
„Ach, sag das nicht, sag das nicht!“ruft die arme Kranke aus.
„Ich kenne ihn besser als du,“erwidert der Fuhrmann. „Und ich will dir sagen, was David Holm zu dem gemacht hat, was er jetzt ist.“
„Das möchte ich gerne hören!“sagt die Kranke. „Es wäre gut für mich, wenn ich ihn verstehen lernte.“
„Dann mußt du mit mir in eine andere Stadt kommen, und wir müssen dort vor dem Zellengefängnis warten,“sagt der Fuhrmann. „Es ist gegen Abend, und ein Mann, der wegen Trunksucht acht bis vierzehn Tage gesessen hat, wird soeben freigelassen. Niemand erwartet ihn am Gefängnistor; aber er bleibt stehen und schaut sich um, in der Hoffnung, jemand kommen zu sehen, denn das hat er sich so sehr gewünscht.
Der Mann, der aus dem Gefängnis kommt, ist eben vorher die Beute einer großen Gemütsbewegung gewesen. Während er da drinnen saß, hat sich sein jüngerer Bruder ins Unglück gestürzt. Er hat im Rausch einen anderen erschlagen und ist nun im Gefängnis. Der ältere Bruder hat nichts von der ganzen Sache gewußt, bis ihn der Gefängnisgeistliche in die Zelle des Mörders geführt und ihm den jungen Mann gezeigt hat, der noch Handschellen anhatte, denn er hatte sich beim Festnehmen heftig gewehrt.
,Kennst du den, der da drinnen sitzt?‘ hat ihn der Pfarrer gefragt. Der Mann erkennt seinen Bruder nun, und ist tief erschüttert, denn diesen Bruder hatte er immer herzlich lieb gehabt.
,Der Ärmste muß nun viele Jahre lang im Gefängnis sitzen,‘ sagte der Pfarrer; ,aber, David Holm, wir alle hier sagen, eigentlich müßtest du statt seiner die Strafe leiden, denn du bist derjenige, der ihn verlockt und verführt hat, bis er ein solcher Trunkenbold geworden ist, der nicht mehr weiß, was er tut.‘
Nur mit knapper Not hatte David sich ruhig verhalten können, bis er wieder in seiner Zelle war; da aber war er in einen Tränenstrom ausgebrochen und hatte so geweint, wie er es seit seiner Kindheit nicht mehr getan hatte. Und dann hatte er sich gesagt, nun wolle er sich von seinen bösen Wegen abwenden. Er hat früher nicht gewußt, wie schrecklich das Bewußtsein, einen anderen, den man lieb hat, ins Unglück gestürzt zu haben, auf einem lastet. Dann hatten sich seine Gedanken von seinem Bruder auf seine Frau und Kinder hingelenkt, und er hatte plötzlich begriffen, wie schwer sie es hatten, und hatte sich gelobt, von nun an sollten sie sich nicht mehr über ihn zu beklagen haben. Und in dieser Abendstunde nun, wo er aus dem Gefängnis entlassen ist, sehnt er sich nach seiner Frau, um ihr zu sagen, daß er ein neues Leben beginnen wolle.
Aber sie erwartet ihn nicht vor dem Gefängnistor, und er begegnet ihr auch nicht auf dem Wege. Ja, als er an ihrer Wohnung anlangt und anklopft, öffnet sie ihm nicht die Tür weit, wie sie sonst zu tun pflegte, wenn er lange abwesend war. Da durchzuckt ihn eine Ahnung, wie sich die Sache verhält; aber er will es nicht glauben. Es ist unmöglich, daß dies gerade jetzt, wo er ein neuer Mensch werden will, eintreffen sollte.
Seine Frau pflegt, wenn sie ausgeht, den Türschlüssel immer unter den Türvorleger zu stecken. David Holm bückt sich nieder und findet ihn an dem gewohnten Platz. Er öffnet die Tür, sieht sich in seiner Wohnung um und fragt sich, ob er am Ende falsch gegangen ist; denn das Zimmer ist vollkommen leer, das heißt, es ist eigentlich nicht leer, die meisten Möbel stehen noch drin, aber kein Mensch ist zu sehen.
Nein, kein Mensch, und auch keine Lebensmittel, kein Brennholz und keine Vorhänge an den Fenstern! Unfreundlich und kalt und verkommen sieht es in dem Raum aus, wie wenn er seit mehreren Jahren nicht mehr bewohnt wäre.
Er geht zu den Nachbarn und fragt, ob seine Frau während seiner Abwesenheit krank geworden sei. Er versucht sich einzubilden, sie sei vielleicht ins Spital gebracht worden. Aber die Nachbarn antworten:
,O nein, sie war ganz gesund, als sie fortging.‘
,Aber wo ist sie denn hingegangen?‘ fragt er.
Ja, das weiß niemand. Er sieht, daß die Nachbarn neugierig und schadenfroh sind, und er ahnt wieder, daß es nur eine Erklärung gibt. Ja, seine Frau hat die Gelegenheit benutzt, während er im Gefängnis saß, und ist auf und davon gegangen. »23. Fortsetzung folgt