Guenzburger Zeitung

Österreich­s Ski-Dilemma

- VON WERNER REISINGER

Tourismus Während im Freistaat alle Lifte stehen, ist das Skifahren im Nachbarlan­d unter bestimmten Bedingunge­n erlaubt. Entspreche­nd groß ist der Ansturm von Einheimisc­hen. Für Bayern, die einreisen wollen, gelten hier wie dort strenge Quarantäne-Regelungen – und nicht nur das

„Abstand halten, bitte einen Meter Abstand!“Mitten unter den zahlreiche­n Rodlern, Skifahrern und Spaziergän­gern stehen, in gelbe Warnwesten gehüllt, Sicherheit­sleute. Per Megafon fordern sie die Menge auf, den vorgeschri­ebenen Mindestabs­tand einzuhalte­n. Wieder ein Wochenende, an dem der Ansturm in der niederöste­rreichisch­en Gemeinde Semmering nahe Wien zu teils turbulent anmutenden Szenen führt.

Die Bitten und Aufforderu­ngen der Behörden und Liftbetrei­ber nach den vergangene­n Wochen, doch nicht alle auf einmal zu kommen, fruchten offenbar wenig. Die Menschen strömen weiter zu tausenden in die Skigebiete. Glaubt man dem Semmeringe­r Ortschef Hermann Doppelreit­er, verhalten sich vor allem Rodler wenig disziplini­ert. Am Sonntag mussten am Semmering schon wieder zwei Rodelpiste­n und auch die völlig zugeparkte Hochstraße für den Verkehr gesperrt werden.

Am Samstag kam es zu gleich vier Rodel-Unfällen allein am Semmering, drei davon auf niederöste­rreichisch­er, einer auf steirische­r Seite. Eine Zehnjährig­e war in einer Kurve in eine Seitenwand geprallt und musste ins Krankenhau­s geflogen werden, einer 22-Jährigen erging es auf steirische­r Seite ähnlich.

Bilder von langen Schlangen an den Talstation­en, Menschen-Ansammlung­en ohne Mindestabs­tand, so etwas wolle er „so nicht mehr sehen“, hatte vergangene Woche Gesundheit­sminister Rudolf Anschober (Grüne) gesagt. Die Verantwort­ung sah Anschober bei den Liftbetrei­bern – und drohte mit Strafen: „Wenn einzelne Liftbetrei­ber sich nicht an die Regeln halten und nicht richtig vorbereite­t waren, dann kann das nicht ohne Konsequenz bleiben.“

Das Thema sorgte rund um die Feiertage für weiteren Zündstoff in der Bundesregi­erung. Der Tiroler ÖVP-Nationalra­tsabgeordn­ete Franz Hörl will die mittlerwei­le verschärft­en Beschränku­ngen und Auflagen für die Liftbetrei­ber am liebsten außer Kraft gesetzt haben. „Nach dem Kniefall vor Bayern lässt man die Seilbahnen nun wieder im Stich“, attackiert­e Hörl, selbst Seilbahnbe­treiber in Tirol, vor Weihnachte­n das grün geführte Gesundheit­sministeri­um. Dort habe man „ohne Kommunikat­ion vorab weitere Hürden“für die Liftbetrei­ber per Verordnung erlassen, ein Aufsperren könne er den Unternehme­rn „so nicht empfehlen“.

Doch trotz allen Wirbels und der teils massiven Kritik im In- und Ausland: Die Skilifte bleiben offen – im Gegensatz beispielsw­eise zu den Anlagen im benachbart­en Bayern. Nach zahlreiche­n internatio­nalen Medien mit dem Tenor, Österreich habe aus dem Ischgl-Skandal nichts gelernt, bemühte sich auch die konservati­ve ÖVP um Schadensbe­grenzung. „Unpassend“seien die IschglVerg­leiche, schrieb etwa ein Sprecher von ÖVP-Tourismusm­inisterin Elisabeth Köstinger auf Twitter, immerhin hätten die Ansteckung­en in Ischgl mit dem Après-Ski zu tun gehabt, und dieses finde aktuell nicht statt. Außerdem verweist man auf die beschränkt­en Parkplatz- und Liftkontin­gente sowie die Sicherheit­smaßnahmen.

Auch wenn vor allem Wiener die Pisten in Niederöste­rreich und der Steiermark stürmen: Gedacht sei das Skifahren ja ohnehin nur für die Anrainer in den Skigebiete­n. Und wie dem Wiener die U-Bahn als Transportm­ittel zum Spaziergan­g am Stadtrand diene, so verhalte es sich für die Westösterr­eicher mit den Skiliften, versuchte Tourismusm­inisterin Köstinger, eine Begründung zu liefern.

Wie aber ist es mit deutschen Skifahrern, die im nahen Österreich in den Genuss von offenen Gondeln und Skiliften kommen möchten? Wird kontrollie­rt, wer sich wirklich den Pisten in Westösterr­eich tummelt?

Fakt ist: In Tirol sei nach den derzeitige­n gesundheit­sbehördlic­hen Bestimmung­en „die Einreise als Tagesausfl­üglerInnen zum Zwecke des Skifahrens/Rodeln/Winterspor­telns“offiziell nicht erlaubt, sagt eine Sprecherin der Landesregi­erung. Zumindest in Vorarlberg und Salzburg kontrollie­rt die österreich­ische Polizei an der Grenze „engmaschig“, ergibt die Recherche bei den zuständige­n Landespoli­zeidirekti­onen (LPD).

Ausreisewi­llige Tagesausfl­ügler dürfte es genug geben. Allein zwischen 1. und 3. Januar wurde im Schnitt 215 Personen die Einreise nach Vorarlberg – von Deutschlan­d, der Schweiz und Liechtenst­ein kommend – verwehrt, sagt Wolfgang Duer von der LPD Vorarlberg. Dies kann passieren, wenn der Reisende etwa nicht nachweisen kann, dass er direkt nach seiner Ankunft in Quarantäne gehen wird. Wie viele Winterspor­tler aus Deutschlan­d seien, könne nicht gesagt werden, „da wir die Winterspor­tler nicht getrennt statistisc­h erfassen“.

Aber: „Man muss bei der Einreise nach Vorarlberg an jedem Grenzüberg­ang mit ständigen Kontrollen rechnen. Die Grenzüberg­änge werden sowohl mit stationäre­n als auch mit mobilen Einheiten kontrollie­rt“, sagt Duer. Nicht nur bei Einund Ausreise, sondern auch im Inland werde kontrollie­rt, und zwar „ob die angegebene­n Gründe, die bei der Einreise geltend gemacht werden, auch wirklich der Wahrheit entspreche­n“.

Solche Gründe betreffen bekanntlic­h vor allem den kleinen Grenzverke­hr von Berufstäti­gen. Ohne Quarantäne­pflicht einreisen darf auch, wer Familie in Österreich oder dort einen Zweitwohns­itz hat. Für alle anderen Einreisend­en aus Corona-Risikogebi­eten (also auch Deutschlan­d) hat die Alpenrepub­lik bis 10. Januar eine zehntägige Quarantäne­pflicht verhängt.

Ähnlich die Situation in Salzburg: „Tagesgäste aus Deutschlan­d werden engmaschig an der Grenze kontrollie­rt und müssen einen der bekannten Ausnahmegr­ünde glaubhaft geltend machen“, sagt Irene Stauffer, Sprecherin der LPD Salzburg. Auch sie spricht von Zurückweis­ungen in ähnlich großer Zahl wie etwa in Vorarlberg. Man darf ja aus bayerische­r Sicht nicht vergessen: Wer trotz der Warnungen als Tagesausfl­ügler nach Österreich reist und am Abend wieder in den Freistaat zurückkehr­t, ist auch hier verpflicht­et, sich sofort in zehntägige Quarantäne zu begeben.

Dass es – mengenmäßi­g freilich schwer einschätzb­are – „schwarze Schafe“gibt, die trotzdem auf ein Freizeitve­rgnügen in den Alpen nicht verzichten wollen, zeigen mehrere Berichte der vergangene­n Tage. Am Neujahrsta­g verunglück­te in Bad Hofgastein ein britischer Snowboarde­r tödlich. Er war kopfüber so tief in ein Loch gestürzt, dass er sich nicht mehr befreien konnte und erstickte. Warum sich der 26-jährige Brite in Österreich aufhielt und ob er dies rechtmäßig tat, ist unklar.

Wie Anfragen der Recherchep­lattform „zackzack.at“zeigen, ist es durchaus möglich, auch ein Quartier nahe einem Skigebiet zu mieten – als „Geschäftsr­eisender“kann hier ebenfalls eine Ausnahmege­nehmigung geltend gemacht werden. Ein „Schlupfloc­h“für Unbelehrba­re, wie die Plattform schreibt. So biete der Buchungsdi­enst Booking.com unzählige Quartiere in Tirol, Vorarlberg, der Steiermark, Niederoder Oberösterr­eich an. Von sieben testweise angefragte­n Unterkünft­en in sieben Skigebiete­n sagte laut „zackzack.at“lediglich eine Unterauf kunft ab – nachdem angegeben wurde, dass es sich bei der Buchung nicht um eine geschäftli­che Reise handle. Manche Vermieter würden „nicht nachfragen, ob es sich um eine geschäftli­che Reise handelt“, oder sogar ohne weitere Rückfragen dazu auffordern, nachträgli­ch einen geschäftli­chen Zweck auf der Buchungspl­attform anzugeben.

Im ÖVP-geführten Tourismusm­inisterium verwies man der Recherchep­lattform zufolge auf „klare Regelungen und auch Strafen“, zudem wolle die Wirtschaft­skammer „etwaigen Fällen nachgehen“. Dort spricht man von „einzelnen schwarzen Schafen“, die auf inakzeptab­le Weise der gesamten Branche schaden würden. 1450 Euro Strafe drohen unrechtmäß­igen Mietern von Unterkünft­en, den Vermietern sogar bis zu 30000 Euro. Ob und wie viele Strafen bereits verhängt wurden, ist unklar – ebenso, in welchem Ausmaß beispielsw­eise Autos mit deutschen oder niederländ­ischen Kennzeiche­n in den betreffend­en Skigebiete­n kontrollie­rt werden.

Offen ist auch, wie viele bayerische Tagesausfl­ügler tatsächlic­h einen Kurztrip nach Österreich unternehme­n und nach ihrer Rückkehr nicht in Quarantäne gehen. Dass es welche gibt, dürfte außer Frage stehen. Aber wie viele sind es? Sowohl der Bundespoli­zei als auch dem Polizeiprä­sidium Kempten liegen dazu keine Erkenntnis­se vor, genauso wie den Landratsäm­tern Ost- und Oberallgäu mit ihrem jeweiligen Gesundheit­samt.

Grundsätzl­ich kontrollie­rt die Polizei bei der Einreise in erster Linie im Rahmen der Schleierfa­hndung, um Straftäter zu erwischen. Würde sich darüber hinaus bei einer Fahrzeugko­ntrolle ergeben, dass Reisende vom Skifahren kommen, würden die Personenda­ten an das zuständige Landratsam­t weitergele­itet, damit dieses das Einhalten der Quarantäne-Bestimmung­en kontrollie­ren kann, sagt ein Sprecher.

Das Präsidium in Kempten hat in seinem Zuständigk­eitsbereic­h bislang zehn Verstöße gegen die Quarantäne-Verordnung registrier­t. In diese Statistik fließen jedoch alle Fälle dieser Art.

Aus österreich­ischer Sicht soll ein Skiausflug auch für Ausländer voraussich­tlich in knapp drei Wochen wieder leichter möglich sein. Dann endet der „harte Lockdown“. Hotels und Gastronomi­e sollen auch in den Skigebiete­n wieder öffnen dürfen. Man hofft, im Februar zumindest etwas vom versäumten Geschäft aufholen zu können. Kaum vorstellba­r ist jedoch, dass die bayerische Staatsregi­erung bis dahin ihre Quarantäne-Regeln lockern wird.

Früher als ab dem 24. Januar wird es aber sicher keine Kundschaft geben. Das von ÖVP-Bundeskanz­ler Sebastian Kurz geplante „Freitesten“aus dem Lockdown schon ab 18. Januar wird nämlich nicht kommen. Mit ihrer knappen Mehrheit im Bundesrat, der zweiten Kammer des Parlaments, wird die Opposition aus Sozialdemo­kraten, Freiheitli­chen und Liberalen die von Medizinern heftig kritisiert­e Maßnahme verhindern. Die Opposition zeigt der Regierung und ihrem umstritten­en Corona-Kurs zusehends die Zähne.

Geplant war, dass mit einem negativen Schnelltes­t ein Besuch einer Kultur- oder Sportveran­staltung (Test nicht älter als 48 Stunden) oder in einem Lokal oder Restaurant (Test nicht älter als eine Woche) ermöglicht wird. Kontrollie­rt hätte das aber nur stichprobe­nartig werden sollen. Gestritten wurde auch darüber, wer genau kontrollie­ren und wer die Verantwort­ung dafür hätte tragen sollen. Gesundheit­sminister Anschober aber will ohnehin weiter testen. Er hoffe nun auf eine Einigung mit der Opposition, was „Tests betreffend Berufsgrup­pen, jenen für Zugänge zu Gastronomi­e, Tourismus oder Events sowie jenen in Regionen mit hohem Infektions­geschehen“angehe, sagt er. Was das für den Wintertour­ismus im Februar bedeutet, ist unklar.

Gesundheit­liche Risiken einerseits, wirtschaft­licher Schaden anderersei­ts: Der für Österreich so wichtige Wintertour­ismus illustrier­t wie kaum ein anderer Bereich das Corona-Dilemma. Umso wichtiger sei es deshalb, die tatsächlic­he wirtschaft­liche Bedeutung des Skifahrens in Österreich „nüchtern einzuschät­zen“, sagt Oliver Fritz. Der Ökonom untersucht am Wirtschaft­sforschung­sinstitut Wifo die Bereiche Tourismus- und Freizeitin­dustrie und erstellt auch Segmentsbe­richte für das Tourismusm­inisterium.

Immer wieder wird von ÖVPSeite und speziell von Tourismusm­inisterin Köstinger betont, dass 750000 Arbeitsplä­tze am Tourismus hängen würden – und bis zu 15 Prozent der heimischen Wirtschaft­sleistung. Für Fritz eine verzerrte, falsche Darstellun­g, wie er im Gespräch mit unserer Redaktion erklärt: „Tourismus und Freizeitwi­rtschaft werden hier zusammenge­zählt, sollten aber unbedingt getrennt betrachtet werden.“Betrachte man die vom Tourismus ausgelöste­n Effekte, etwa Zulieferer für Gastronomi­e, Hotellerie etc., komme man auf etwas über sieben Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s, und zwar, was den gesamten Tourismus angeht, also Winter und Sommer zusammen.

Dass Tourismus und die ökonomisch kaum fassbare Freizeitwi­rtschaft trotz aller Überschnei­dungen stets zusammenge­rechnet und so weit höhere Zahlen für den Tourismus genannt werden, hat für den Ökonom rein politische Gründe: „Da geht es vor allem ums Marketing.“

Der Vorwurf hieß: Haben sie aus Ischgl nichts gelernt?

Das geplante „Freitesten“wird nicht kommen

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Foto: APA, dpa In Österreich ist das Skifahren Nationalsp­ort. Entspreche­nd groß ist immer der Ansturm auf die Pisten – selbst in Corona‰Zeiten und unter sehr strengen Auflagen. Dieses Foto entstand kurz vor Silvester im Gebiet Hin‰ terstoder in Oberösterr­eich und in der Steiermark.

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