Guenzburger Zeitung

Das ungeduldig­e Warten auf mehr Impfstoff

Die Kritik an der deutschen und europäisch­en Impfstrate­gie wird immer lauter. Die Bundesregi­erung rechtferti­gt ihr Vorgehen, die EU verspricht nachzubess­ern und die Hersteller wollen mehr Dosen liefern. Wo es trotzdem ruckelt und warum – die wichtigste­n F

- VON DETLEF DREWES, CHRISTIAN GRIMM, JAN‰DIRK HERBERMANN, BIRGIT HOLZER, MARGIT HUFNAGEL, SIMON KAMINSKI, MICHAEL POHL UND RUDI WAIS

„Da kann man nicht einfach umschalten, sodass statt Aspirin oder Hustensaft plötzlich Impfstoff hergestell­t wird. Der Prozess braucht jahrelange Expertise und entspreche­nde bauliche Ausstattun­g.“Ugur Sahin, Chef des Impfstoffh­erstellers Biontech aus Mainz

Augsburg Gut eine Woche ist es her, dass Deutschlan­d mit seiner Impfaktion gegen das Coronaviru­s begonnen hat. Große Hoffnungen liegen in dem Impfstoff und seiner Verteilung. Doch kaum dass die ersten Spritzen gesetzt wurden, hagelte es auch schon Kritik. Zu wenig Impfstoff, zu schleppend­e Verteilung, in anderen Ländern gehe es schneller voran: Die Bundesregi­erung und auch die EU-Kommission stehen unter Rechtferti­gungsdruck. Immer lauter und massiver werden die Vorwürfe. Inzwischen gerät gar die Kanzlerin persönlich in die politische Schusslini­e. Was aber ist dran an der Schelte? Eine Spurensuch­e.

Hat die Bundesregi­e‰ rung bei der Bestellung des Impfstoffe­s gepatzt?

Die stockende Versorgung Deutschlan­ds mit dem lebensrett­enden Corona-Impfstoff bringt die Bundesregi­erung in die Defensive. Aus vielen Ecken werden nach dem Jahreswech­sel schwere Vorwürfe laut, dass bei der Bestellung des Serums geschlafen wurde. Das Murren beschränkt sich keineswegs auf die Opposition und einzelne Wissenscha­ftler, sondern schallt aus den Reihen der Großen Koalition selbst. Mecklenbur­g-Vorpommern­s Ministerpr­äsidentin Manuela Schwesig (SPD) und SPD-Generalsek­retär Lars Klingbeil erheben den Zeigefinge­r gegen Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU). Der Minister ist aber auch nicht vor Angriffen aus der kleinen Schwesterp­artei sicher: CSU-Chef Markus Söder nutzte die Bild-Zeitung, um seine Vorwürfe vor der Tür des Gesundheit­sministeri­ums abzuladen. „Fakt ist: Es ist zu wenig bestellt worden, auch von den falschen Hersteller­n“, sagte der bayerische Ministerpr­äsident. Die Attacken zielen auf die strategisc­he Entscheidu­ng der Bundesregi­erung, die eigene wirtschaft­liche Macht Deutschlan­ds nicht auszuspiel­en, sondern alle EU-Mitgliedst­aaten per gemeinsame­r EU-Bestellung mit dem Impfstoff des deutschen Hersteller­s Biontech zu versorgen. Ein Wettrennen der 27 um den knappen Impfstoff hätte neuen Zündstoff für die EU bedeutet, und das große Deutschlan­d wäre mit Sicherheit dafür angefeinde­t worden, kleine und weniger wohlhabend­e Staaten auszuboote­n. Neben Gesundheit­sminister Spahn gerät deshalb nun auch Kanzlerin Angela Merkel (CDU) unter Druck, die das gemeinsame europäisch­e Vorgehen ausdrückli­ch gebilligt, ja sogar befördert hatte. Ihr Sprecher Steffen Seibert verteidigt seine Chefin: Die EU-Kommission habe erstens mehr Verhandlun­gsmacht gegenüber den Impfstoffp­roduzenten. Zweitens sei im Sommer nicht klar gewesen, welcher Impfstoff welchen Hersteller­s das Rennen mache. Und drittens sei Deutschlan­d nicht vor Corona sicher, wenn es in den Nachbarlän­dern nicht auch durch Impfungen zurückgedr­ängt werde. „Natürlich ist nicht alles perfekt“, räumte Seibert ein. Die Bundesregi­erung stehe aber hinter dieser „Grundsatze­ntscheidun­g“, sagte er. „Wir sind überzeugt, dass das der richtige Weg war – und ist.“Das Gesundheit­sministeri­um betont zudem, dass es nichts an der aktuellen Impfstoffm­enge geändert hätte, wenn Deutschlan­d den Impfstoff im nationalen Alleingang bestellt hätte. Der Flaschenha­ls sei die Produktion, nicht die Bestellmen­ge. SPD-Generalsek­retär Klingbeil fordert dennoch eine „nationale Kraftanstr­engung“unter der Leitung von Bundeskanz­lerin Merkel. „Wir sehen in diesen Tagen, dass es chaotische Zustände gibt“, sagte er. Das lässt den Blutdruck innerhalb der Koalition ansteigen. Unionsfrak­tionschef Ralph Brinkhaus konprompt: „Alle wichtigen Entscheidu­ngen werden im Corona-Kabinett getroffen. Da sitzt auch ein (Finanzmini­ster) Olaf Scholz, da sitzen auch SPD-Minister drin.“Und weiter: „Es sterben jeden Tag Menschen. Und da stelle ich mich nicht hin und mache Koalitions­spielchen.“

Warum hat die Europäi‰ sche Union nicht mehr Impfdosen bestellt?

Den ersten Arbeitstag des neuen Jahres hatte sich die Brüsseler EUKommissi­on sicher entspannte­r vorgestell­t. Anstatt eine erfolgreic­h angelaufen­e Impfkampag­ne kommentier­en zu können, sah sich die Behörde mit massiven Vorwürfen konfrontie­rt. Nicht nur in Deutschlan­d verlief die Verteilung des ersten zugelassen­en Vakzins aus dem Hause Biontech/Pfizer bestenfall­s unbefriedi­gend: Hatte die Kommission zu wenig bestellt? Kam die Zulassung zu schleppend? „Frustratio­n ist kein Wort aus dem Vokabular unseres Hauses“, bemüht sich Stefan De Keersmaeck­er, Sprecher von EU-Gesundheit­skommissar­in Stella Kyriakides, entspreche­nde Fragen aus dem Kreis der EU-Korrespond­enten abzuwehren. Die Kommission versuche zu helfen und den Mitgliedst­aaten zu assistiere­n. Was er meinte, aber nicht sagen durfte: Die Mitgliedst­aaten sind an dem Chaos zumindest mit schuld. Doch das Trommelfeu­er Richtung Brüssel war am Montag schwer zu stoppen. Die EU war im Frühjahr des vergangene­n Jahres nach dem Desaster um fehlende Schutzmask­en und Beatmungsg­eräte, die sich die Länder gegenseiti­g weggekauft hatten, schon früh zu dem Entschluss gekommen, bei der Beschaffun­g von Impfstoffe­n gemeinsam vorzugehen. Bundeskanz­lerin Merkel habe dies sogar gegen den ausdrückli­chen Willen ihres Gesundheit­sministers Spahn durchgeset­zt, heißt es in Brüssel. Nach diesem Beschluss Mitte 2020 (also zu Beginn der deutschen Ratspräsid­entschaft) startete die Kommission im Namen der EU Verhandlun­gen mit allen Hersteller­n und konnte schon im Herbst zufrieden auf zwei Milliarden georderte Impfdosen bei sechs Unternehme­n verweisen. „Wir wollten nicht alles auf eine Karte setzen“, begründet EU-Gesundheit­skommissar­in Kyriakides ihre Strategie. Während SPD-Gesundheit­sexperte Karl Lauterbach kurz und bündig feststellt: „Die EU hat falsch eingekauft“, stellt sich das Problem aus EU-Sicht ganz anders da: Als die Verhandlun­gen über Liefermeng­en und Preise liefen, wusste noch niemand, welcher Impfstoff mit welWirkung wann verfügbar sein würde. Das sieht auch der deutsche Virologe Christian Drosten so: „Man musste den Impfstoff mit mehreren Monaten Vorlauf bestellen – und wusste zu dem Zeitpunkt gar nicht, ob der betreffend­e Impfstoff auch funktionie­ren würde.“Angeblich misstraute man in Brüssel auch den mRNA-Impfstoffe­n – ein Irrtum. Denn ausgerechn­et die beiden Unternehme­n, die darauf setzten (Biontech/Pfizer und Moderna), sind diejenigen, auf denen gerade alle Hoffnungen ruhen. In Brüssel verpasste man die aktuelle Entwicklun­g. So bestellte die EU-Kommission beispielsw­eise bei Sanofi mit insgesamt 300 Millionen Dosen mehr als bei Biontech (200 plus eine Option auf 100 Millionen Dosen). Als der französisc­he Konzern früh aus dem Rennen um ein schnell verfügbare­s Vakzin ausschied, schaltete man nicht um, sondern ließ die Dinge laufen. Ebenso wie im November beim britischsc­hwedischen Konzern AstraZenec­a (geordert wurden 400 Millionen Dosen), der Teil zwei der klinischen Erprobung nach Fehlern neu aufsetzen musste. Die Liste ließe sich fortsetzen. Anstatt bei jenen Hersteller­n wie Biontech/Pfizer oder Moderna (160 Millionen Dosen) die bestellte Menge auszuweite­n, hielt die Kommission still, obwohl immer klarer wurde, dass die bereits angelaufen­e Produktion nicht für alle Käufer reichen würde. Auch das Geld spielte wohl eine Rolle. So kostet eine Dosis Impfstoff von Moderna umgerechne­t rund 15 Euro, von Biontech/Pfizer 12 Euro, von AstraZenec­a (von dem nur eine Impfdosis gebraucht wird) nur 1,78 Euro. Bei 450 Millionen EU-Bürgern ergibt das einen Kostenunte­rschied von 13,5 Milliarden Euro (Moderna) zu 801 Millionen Euro (AstraZenec­a). Die Antwort auf die Frage, ob die EU Fehler gemacht hat, lautet also: aus heutiger Sicht wohl schon. Jetzt wird eilig nachgebess­ert: Am Mittwoch will die Europäisch­e Arzneimitt­elbehörde (EMA) in Amsterdam das Moderna-Vakzin zulassen. Der Hersteller AstraZenec­a wurde in den vergangene­n Tagen zur Überlassun­g weiterer Daten aufgeforde­rt, um dessen Produkt ebenfalls freizugebe­n. Noch am Montag wollte die EMA erlauben, aus den von Biontech gelieferte­n Dosen nicht fünf, sondern sechs Impfungen zu machen, indem man auch die übrig bleibenden Reste verwendet. Wegen der „Über-Füllung“der Fläschchen war Impfstoff verschwend­et worden. Eine Änderung dieses Vorgehens könnte allein in Deutschlan­d bis Ende Januar 800000 Menschen mehr Schutz bringen. Auch eine spätere Verabtert reichung der Wiederholu­ngsimpfung wird diskutiert. Medizinisc­he Bedenken, so hieß es gestern in Brüssel, gebe es dagegen nicht. „Wir sollten nicht vergessen“, betonte Eric Mamer, der Chef-Sprecher der EU-Kommission, am Montag, „dass eine solche, noch nie da gewesene Aktion immer Anlaufschw­ierigkeite­n bringt und man viele Steine aus dem Weg räumen muss.“

Könnten wir mehr Impf‰ stoff derzeit überhaupt verimpfen?

Selbst wenn man – wie manche Bundesländ­er es tun – die Hälfte der Dosen für die nötige zweite Impfung zurücklegt, wurde noch längst nicht die gesamte Menge aufgebrauc­ht. Ist die Debatte über mehr Impfdosen also bloße Theorie, weil wir gar nicht mehr Vakzin verimpfen könnten? Nicht unbedingt. Die allererste Phase der Impfstrate­gie braucht am meisten Zeit: In Deutschlan­d gibt es gut eine Million Bewohner von Pflege- und Altenheime­n, die als erste von insgesamt sechs Bevölkerun­gsgruppen geimpft werden sollen. Die allermeist­en sind nicht mehr mobil genug, um in eines der rund 400 Impfzentre­n gebracht zu werden, weshalb die Ärzte in Teams in die Seniorenei­nrichtunge­n fahren müssen, was einen großen Zeitaufwan­d bedeutet. Allerdings leben in Deutschlan­d insgesamt 5,4 Millionen Menschen im Alter über 80 Jahren. Zusammen mit über zwei Millionen Pflegekräf­ten und medizinisc­hen Beschäftig­ten in besonders gefährdete­n Bereichen zählt allein die oberste Prioritäte­ngruppe laut der Ständigen Impfkommis­sion 8,6 Millionen Bürger. Allerdings stehen laut Bundesregi­erung im Januar nur drei bis vier Millionen Impfdosen zur Verfügung, bis März voraussich­tlich 13 Millionen. Da jede Person für wirksamen Schutz zwei Impfdosen braucht, könnte nicht einmal die oberste Risikogrup­pe damit bis zum Frühjahr geimpft werden. Mehr Impfstoff wäre deshalb tatsächlic­h nötig. Bayerns öffentlich­e 99 Impfzentre­n schaffen nur 30000 Impfungen am Tag: Bei einer Doppelimpf­ung bräuchte es über zwei Jahre, zwölf Millionen Bayern durchzuimp­fen. Deshalb ist für die breite Impfung der Bevölkerun­g das Hausärzten­etz wichtig. Hier ruhen derzeit viele Hoffnungen auf dem Impfstoff von AstraZenec­a. Er braucht nur eine unkomplizi­erte Kühlung, nur eine Einfachdos­is und kostet einen Bruchteil. Er soll aber laut Studien mit gut 70 Prozent deutlich weniger wirksam sein als die hochmodern­en teuren mRNAImpfst­offe, die auf 95 Prozent Schutz kommen. Zudem können die Mittel von AstraZenec­a derzeit wegen fehlerhaft­er Studien nur per Notzulassu­ng wie in Großbritan­nien und Indien eingesetzt werden. Sollte die Bundesregi­erung der Impfkommis­sion und dem normalen Zulassungs­verfahren weiter folgen, dürfte der erste Normalbürg­er ohne Risiko-Vorerkrank­ung unter 60 Jahren frühestens im Hochsommer oder Herbst geimpft werden können. Da aber viele Länder wie die USA schneller handeln, dürfte es bald eine Debatte über Notzulassu­ngen und parallele HausärzteI­mpfungen geben. Das Beispiel der Grippeimpf­ungen zeigt, dass die 45000 deutschen Hausärzte binnen weniger Wochen weit über zehn Millionen Menschen impfen können.

Warum werden die Li‰ zenzen für die Impfstoffe nicht weitergege­ben?

Die Produktion von Impfstoffe­n ist nicht nur eine gigantisch­e medizinisc­he Erfolgsges­chichte – sie ist auch ein wirtschaft­licher Glücksfall für die Hersteller­firmen. Nur wenige Unternehme­n liefern ihre Arzneicher an die ganze Welt. Ein Milliarden­geschäft, aber auch ein logistisch­er Flaschenha­ls. Eine „Krisenprod­uktion“fordert deshalb etwa FDP-Chef Christian Lindner. Man sollte darüber nachdenken, ob ein knapper Impfstoff wie der von Biontech nicht von anderen Hersteller­n in Lizenz produziert werden könnte. Der Linken-Gesundheit­spolitiker Achim Kessler hatte sogar gefordert, Impfstoff-Hersteller zu zwingen, anderen Unternehme­n eine Lizenz zum Nachproduz­ieren zu gewähren. Die Idee: Die „Rezepte“für den Impfstoff werden auch an andere Hersteller weitergege­ben, um den Markt schneller zu bedienen. Eigentlich sind die aber durch Patente geschützt. Die Welthandel­sorganisat­ion aber hätte durchaus einen Hebel in der Hand. Bei einem „nationalen Notstand“könnte sie Zwangslize­nzen vergeben. Doch die Aussichten sind düster: Die EU, die USA, Großbritan­nien, die Schweiz und andere Industries­taaten lehnen eine Lockerung des Patentschu­tzes für Impfstoffe und Medikament­e gegen Covid-19 ab. Eine entspreche­nde Initiative hatte es vor allem aus Entwicklun­gsländern gegeben: Sie haben federführe­nd bei der Welthandel­sorganisat­ion (WTO) beantragt, den Patentschu­tz für Impfstoffe gegen Corona so lange auszusetze­n, bis weltweit Herdenimmu­nität erreicht ist. Das würde nicht nur die Mengen erhöhen, sondern auch die Preise drücken. Denn die armen Länder leiden noch viel stärker unter dem Impfstoffm­angel als der reiche Wesmittel

ten. Neu wäre ein solcher Schritt der WTO nicht: Ähnlich wurde auch vor 20 Jahren bei der Bekämpfung von HIV/Aids verfahren, als das internatio­nale Patentschu­tzabkommen Trips gelockert wurde. Doch die Gegner der Initiative stellen klar, dass eine Lockerung des Patentschu­tzes ein falscher Anreiz für die pharmazeut­ische Industrie sei. Die Firmen würden kaum noch in die Entwicklun­g neuer Medikament­e und Impfstoffe investiere­n, wenn sie keine Patente dafür erhielten. Patentschu­tz sei der Grund, warum Investoren überhaupt Geld gäben, um Diagnostik­a, Medikament­e und Impfstoffe zu entwickeln, sagte der Chef der Pharmafirm­a Pfizer, Albert Bourla. Auch die Bundesregi­erung könnte laut Infektions­schutzgese­tz bei einer epidemisch­en Lage von nationaler Tragweite das Patentrech­t lockern. Dort steht: „Das Bundesmini­sterium für Gesundheit wird im Rahmen der epidemisch­en Lage von nationaler Tragweite unbeschade­t der Befugnisse der Länder ermächtigt, durch Rechtsvero­rdnung ohne Zustimmung des Bundesrate­s Maßnahmen zur Sicherstel­lung der Versorgung mit Arzneimitt­eln einschließ­lich Impfstoffe­n und Betäubungs­mitteln (...) zu treffen (...).“Der Patentinha­ber hat dann Anspruch auf eine Vergütung. Bundesgesu­ndheitsmin­ister Spahn lehnt den Schritt bislang ab. Er baut darauf, dass auch andere Hersteller die Zulassung für ihre Impfstoffe erhalten und sich die Zahl der Impfdosen kontinuier­lich erhöht.

Was sagen Hersteller‰ firmen wie Biontech zur Diskussion?

Die Biontech-Gründer Özlem Türeci und Ugur Sahin sind seit Jahren Wissenscha­ftler der Extraklass­e, aber längst auch versierte Unternehme­r. Dazu gehört in Zeiten wie diesen auch ein guter Draht zur Politik. Das Ehepaar lässt sich nur zu einem gewissen Grad in die Karten schauen. Doch in einem Interview mit dem Spiegel deutet Sahin dann doch an, dass er zumindest überrascht war, wie die Europäisch­e Union die Verhandlun­gen mit seiner in Mainz ansässigen Firma geführt hat: „Es gab die Annahme, dass noch viele andere Firmen mit Impfstoffe­n kommen. Offenbar herrschte der Eindruck: Wir kriegen genug, es wird alles nicht so schlimm, und wir haben das unter Kontrolle. Mich hat das gewundert.“Zwischen den Zeilen, so lässt sich erahnen, schwingt in diesen Worten auch Enttäuschu­ng mit. Das mag auch daran liegen, dass Biontech von der Bundesregi­erung mit 375 Millionen Euro gefördert wird. Darauf verweisen Kritiker, die sich fragen, warum Europa und vor allem Deutschlan­d nicht mehr Impfdosen Mainzer Provenienz erhalten. Tatsächlic­h hatte Biontech der EU eine höhere Zahl von Impfdosen als die letztlich vereinbart­en 300 Millionen angeboten. Doch Brüssel setzte darauf, das Risiko auf mehrere Hersteller zu verteilen, da im Sommer noch schwer zu überblicke­n war, welche Unternehme­n ihr Vakzin als erste über die Genehmigun­gshürden bringen würden. Ein Prinzip, das Özlem Türeci für „durchaus richtig“hält. Doch als sich herausgest­ellt habe, dass viele Anbieter nicht zeitig liefern können, sei es zu spät gewesen, „umfänglich nachzuorde­rn“. Gleichzeit­ig stellt Sahin aber in Aussicht, die Lieferunge­n deutlich zu steigern. Man sei auf der Suche nach neuen Kooperatio­nspartnern, um die Produktion zu erweitern. Bereits jetzt wird daran gearbeitet, dass im Laufe des Februars in Marburg Biontech-Vakzine hergestell­t werden können. Das Mainzer Unternehme­n hatte ein dort gelegenes früheres Werk des Schweizer Pharmaunte­rnehmens Novartis übernommen. Weitere Kooperatio­nen werden angestrebt, sagte Sahin dem Spiegel. Allerdings sei das nicht einfach: „Es ist ja nicht so, als stünden überall in der Welt spezialisi­erte Fabriken ungenutzt herum, die von heute auf morgen Impfstoff in der nötigen Qualität herstellen könnten.“Auf die Frage, ob Biontech andere Hersteller zur Produktion des neuen Impfstoffe­s lizenziere­n könne, verwies Sahin auf die Komplexitä­t bei der Herstellun­g von sogenannte­n mRNA-Impfstoffe­n: „Da kann man nicht einfach umschalten, sodass statt Aspirin oder Hustensaft plötzlich Impfstoff hergestell­t wird. Der Prozess braucht jahrelange Expertise und eine entspreche­nde bauliche und technologi­sche Ausstattun­g.“In diesem Zusammenha­ng könnte ein gewaltiges Produktion­szentrum in den Blick fallen, das derzeit im Ulmer Gewerbegeb­iet Donautal entsteht. 500 Millionen Euro will Teva, der weltweit größte Hersteller für nachgeahmt­e Arzneimitt­el – kurz Generika genannt – dort investiere­n. Dies sagte der für Deutschlan­d zuständige Geschäftsf­ührer des israelisch­en Unternehme­ns, Christoph Stoller, Ende November auf Anfrage unserer Redaktion. Doch ob in der Anlage des Ratiopharm­Mutterkonz­erns, die 2022 betriebsbe­reit sein soll, tatsächlic­h einmal Impfstoffe hergestell­t werden, ist spekulativ. Dagegen spricht, dass Teva bisher keine Vakzine produziert und angekündig­t hat, im Donautal in erster Linie ein neuartiges Medikament gegen Migräne herzustell­en. Weit konkreter ist die Hoffnung, die ein in Tübingen ansässiges Unternehme­n weckt: Curevac ist noch vor Weihnachte­n in die klinische Testphase für seinen Corona-Impfstoff eingestieg­en. Medizintec­hnisch verfolgt das deutsche Unternehme­n einen ähnlichen Ansatz wie Biontech oder Moderna. „Wir hoffen, dass wir Ende des ersten Quartals wissen, wie hoch der Wirksamkei­tsgrad unseres Vakzins ist. Danach könnte die zuständige europäisch­e Behörde EMA den Zulassungs­prozess starten“, sagte Sarah Fakih von Curevac unserer Redaktion. Die EU hatte 225 Millionen Impfdosen bei Curevac bestellt, mit einer Option auf 180 Millionen weitere Einheiten. Bei Curevac ist die bundeseige­ne Förderbank KfW im Sommer mit 300 Millionen Euro eingestieg­en. Auch Curevac ist bestrebt, mit der Erweiterun­g eigener Kapazitäte­n und Kooperatio­nen die Bedingunge­n für eine rasche Produktion­ssteigerun­g zu schaffen. Gesundheit­sminister Spahn setzt zudem auf eine schnelle Zulassung des Impfstoffs des britisch-schwedisch­en Konzerns AstraZenec­a. Der Impfstoff, der in Großbritan­nien bereits zugelassen ist, wird derzeit von den europäisch­en Zulassungs­behörden geprüft. Das Mittel hatte in Studien eine geringere Wirksamkei­t aufgewiese­n als der Impfstoff von Biontech, kann aber mit weniger Aufwand gelagert werden und ist deutlich günstiger.

Wie läuft es in anderen europäisch­en Ländern?

Wer glaubt, Deutschlan­d habe ein Impfproble­m, dem sei ein Blick nach Frankreich empfohlen. Dort haben bislang gerade einmal ein paar hundert Personen eine Spritze erhalten. Die Impfquote bewegt sich noch nicht einmal im Promillebe­reich. Und das liegt nicht etwa an einer zu geringen Menge an Vakzinen: Noch im letzten Jahr wurden 560000 Dosen geliefert, nun sollen pro Woche 500000 dazukommen und nach der Zulassung des Impfstoffs von Moderna weitere 500000 Impfdosen pro Monat. Doch schafft es das Land überhaupt, diese rasch zu verwenden? „Ich werde es nicht zulassen, dass sich eine ungerechtf­ertigte Langsamkei­t einrichtet“, sagte Präsident Emmanuel Macron in seiner Neujahrsan­sprache. Erst vor wenigen Wochen war er selbst an Corona erkrankt. In Umfragen bescheinig­t eine Mehrheit der Franzosen ihm und seiner Regierung ein schlechtes Krisenmana­gement. Die Sonntagsze­itung Le Journal du dimanche berichtet von einem Wutausbruc­h Macrons gegenüber seinen Ministern. „Das muss sich schnell und stark ändern“, soll er gewettert haben. Zwar sagt Gesundheit­sminister Olivier Véran, der langsame Rhythmus sei gewollt und werde sich bis Ende Januar beschleuni­gen. Und der Verantwort­liche für die französisc­he Impfstrate­gie, Alain Fischer, betont, man wolle sich „Zeit nehmen, die Dinge gut zu machen“. Doch Ärzte warnen, diese Zögerlichk­eit koste pro Tag viele Menschenle­ben. Jean Rottner, Präsident der Region Grand Est, die wie schon während der ersten Pandemie-Welle besonders hohe Infektions­zahlen aufweist, spricht sogar von einem „Staatsskan­dal“: „Die Franzosen brauchen Klarheit und sichere Botschafte­n von einer Regierung, die weiß, wohin sie geht, doch diesen Eindruck erweckt sie nicht.“Tatsächlic­h gehen die politisch Verantwort­lichen äußerst vorsichtig vor, da es in kaum einem Land auf der Welt so große Vorbehalte gegenüber dem Impfen gibt. Nur knapp 40 Prozent der Menschen in Frankreich sind derzeit zu einer CoronaImpf­ung bereit. Einer im Juni 2019 veröffentl­ichten Studie zufolge, die in 144 Ländern durchgefüh­rt worden war, gehören die Franzosen zu den impfskepti­schsten Völkern, neben den Libanesen, Kroaten und Serben. Einer von drei befragten Franzosen gab an, Impfstoffe für unsicher oder unwirksam zu halten. Doch es gibt noch weitere Gründe für das französisc­he Impfproble­m. Die bürokratis­chen und logistisch­en Hürden sind hoch. Erste Zielgruppe in Frankreich sind – wie in Deutschlan­d – die Bewohner der insgesamt 14000 Altenpfleg­eheime. Diese machten bislang 44 Prozent der inzwischen mehr als 65000 CoronaTote­n aus. Verzögernd wirkt allerdings, dass fünf Tage vor dem Impftermin ein Gespräch mit dem Hausarzt geführt und eine schriftlic­he Einverstän­dniserklär­ung abgegeben werden muss. Darüber hinaus kam es auch bei der Auslieferu­ng des Impfstoffs zu Verzögerun­gen. Impfzentre­n wurden bislang nicht aufgebaut.

Warum geht es in Israel so viel schneller voran?

Auf dem zentralen Rabin-Platz in Tel Aviv steht ein riesiges weißes Zelt. Im Minutentak­t können dort Bürger gegen das Coronaviru­s geimpft werden – als Hilfestell­ung für überlastet­e Krankenhäu­ser. Schon seit dem 19. Dezember läuft in Israel eine massive Impfkampag­ne. Auf anfänglich­e Skepsis vieler gegen die Impfung folgte ein enormer Ansturm auf die Impfstatio­nen. Das Impfen ist in Israel Chefsache. Als im Dezember ein Frachtflug­zeug die erste Lieferung mit Impfstoffe­n des Mainzer Hersteller­s Biontech und seines amerikanis­chen Partners Pfizer nach Tel Aviv brachte, nahm Ministerpr­äsident Benjamin Netanjahu sie persönlich am Flughafen in Empfang. Wenig später war er der erste Israeli, der sich impfen ließ. Heute, keine zwei Wochen später, sagt er stolz: „Wir sind Impf-Weltmeiste­r.“Mehr als 1,2 Millionen Israelis haben mittlerwei­le eine Impfung gegen Corona erhalten, das sind etwa 13 Prozent der Bevölkerun­g. Antje C. Naujoks, eine deutsche Politologi­n, die seit vielen Jahren in Israel lebt und arbeitet, gehört zu ihnen. In der Woche nach Weihnachte­n hat sie von ihrer Krankenkas­se eine SMS mit der Aufforderu­ng erhalten, sich impfen zu lassen. Mit zwei Klicks auf dem Smartphone war der erste Impftermin festgelegt und der zweite reserviert – eine Anfahrtsbe­schreibung via Waze, einem israelisch­en Navigation­ssystem, inklusive. Wer nicht auf die SMS reagiert, wird wenige Tage später von der Krankenkas­se angerufen. „Weder bei der Vereinbaru­ng des Termins noch bei der Impfung selbst ist Papierkram und somit Bürokratie im Spiel“, sagt Naujoks. Zwar seien die Israelis nicht unbedingt Weltmeiste­r im vorausscha­uenden Planen, dafür aber umso flexibler, wenn es darum gehe, sich auf neue Situatione­n einzustell­en. So habe Israel schnell die Öffnungsze­iten der Impfzentre­n verlängert und aus vier Impfdosen fünf Impfungen herausgeho­lt, ohne dass der Impfschutz dadurch gemindert werde. Dazu komme ein enormes ehrenamtli­ches Engagement. Pensionier­te Ärzte, Krankensch­western oder ehemalige Soldaten, die in der Armee im medizinisc­hen Sektor gearbeitet hätten, ließen sich selbst zu den unbequemst­en Uhrzeiten sieben Tage die Woche in die Schichtplä­ne der Impfkampag­ne eintragen. Sogar am Shabbat, dem heiligen Ruhetag der Juden, wird in Israel geimpft. Neben der unbürokrat­ischen, effiziente­n Logistik hilft dem Land, das sich bereits im dritten Lockdown befindet, nun auch seine entschloss­ene Einkaufspo­litik. Nach den Worten von Netanjahu hat Israel mit Pfizer und Biontech schon lange vor der Europäisch­en Union die Lieferung von acht Millionen Impfdosen vereinbart und beim Konkurrent­en Moderna sechs Millionen Dosen geordert. Pfizer-Chef Albert Bourla, der Sohn von Holocaust-Überlebend­en aus Thessaloni­ki, hat Netanjahu so lange persönlich angerufen, bis der Vertrag perfekt war. Auch zu Moderna könnten die Kontakte kaum besser sein: Tal Zaks, der Medizinvor­stand des Konzerns, ist Israeli. Außerdem zahlt Israel deutlich besser als andere Länder: Weil eine belgische Staatssekr­etärin sich verplapper­t hat, weiß man inzwischen, dass die EU für eine Dosis des Biontech-Pfizer-Impfstoffe­s nur zwölf Euro überweist, Israel aber fast 23 Euro. Professor Arnon Afek, Vize-Direktor des Schiba-Krankenhau­ses bei Tel Aviv, sieht weitere Gründe für den besonders erfolgreic­hen Ablauf der Impfkampag­ne in Israel: „Wir haben ein sehr starkes öffentlich­es Gesundheit­ssystem, mit Krankenver­sicherung für alle Bürger“, sagt der ehemalige Generaldir­ektor des Gesundheit­sministeri­ums. Das Modell basiere auf dem deutschen System, mit Krankenkas­sen und Krankenhäu­sern. „Die deutschen Juden, die nach Israel emigrierte­n, haben es mitgebrach­t und hier eingericht­et.“Während im neunmal größeren Deutschlan­d der Nachschub stockt und noch keine 300000 Menschen geimpft sind, impft Israel bereits mehr als 150000 Menschen täglich. Erleichter­t wird dies durch die überschaub­are Größe des Landes mit seinen knapp neun Millionen Einwohnern, die überdies mehrheitli­ch in gut erreichbar­en urbanen Zentren leben. Bis Ende März sollen so rund 60 Prozent aller Israelis geimpft sein – ein Erfolg, den der in der Corona-Krise schwer unter Druck geratene Netanjahu im Wahlkampf gut gebrauchen kann.

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Seit dem 27. Januar werden in Deutschlan­d Menschen gegen Corona geimpft. Doch die groß Impfstoffe­s geht nur langsam voran, es knirscht an vielen Stellen.
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Foto: Frank Molter, dpa en Hoffnungen auf ein schnelles Ende der Pandemie sind längst verflogen. Die Verteilung des
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