Guenzburger Zeitung

Wenn jeder nur für seine Freiheiten kämpft, verlieren alle Debatte

Wer im Freundeskr­eis Kontakte trotz Corona nicht reduziert, der gefährdet Leben – auch von Fremden. Es ist naiv zu glauben, man könne nur für sich und sein Umfeld Ausnahmen machen

- VON YANNICK DILLINGER ydi@augsburger‰allgemeine.de

„Wir haben das zu Hause besprochen und eine private Entscheidu­ng getroffen: Wir nehmen das Risiko in Kauf. Keiner macht dem anderen Vorwürfe. Es hat eh keiner Angst, sich anzustecke­n:“Wie oft habe ich 2020 diese Worte gehört? Zehnmal? 15 Mal? 20 Mal? Im Gespräch mit Freunden, auch guten. Im Gespräch mit Bekannten, auch nahen. Vor Geburtstag­en. Vor Weihnachte­n. Vor Silvester.

So verantwort­ungsbewuss­t und nachvollzi­ehbar das zunächst klingen mag: Es ist unverantwo­rtlich. In der Corona-Pandemie ist eine solche eben keine private Entscheidu­ng. Das Ausnutzen individuel­ler Freiheitsr­echte beschränkt im Zweifelsfa­ll das Recht des anderen auf Unversehrt­heit. Der Angstlose trifft den Angstvolle­n an der Wursttheke. Beim Arzt. Auf der

Arbeit. Und er gefährdet das Leben des anderen. Vielleicht nicht mutwillig, aber mindestens leichtfert­ig. Spätestens in diesen Momenten wird aus der privaten eine Entscheidu­ng fürs Kollektiv. Wenn sich alle ihre kleinen Freiheiten gönnen, kriegen wir die Pandemie nicht eingedämmt.

Immanuel Kant hat die Überschrif­t über viele der aktuellen Diskussion­en bereits vor mehr als 200 Jahren gesetzt: Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des anderen beginnt. Das Kollektiv besteht aus der Gesamtheit der Individuen. Jeder „Einzelne“ist auch der „andere“. In der Pandemie kann der Einzelne mit seiner eigenen Entscheidu­ng dafür sorgen, dass der andere keine eigene Entscheidu­ng mehr treffen kann.

Die Freiheit ist ein hohes Gut, eines der höchsten. Deutschlan­d ist ein freies Land. Hier darf jeder sagen, was er für richtig hält – auch öffentlich. Die Grenzen setzen nur Gesetze. Deutsche müssen sich Freiheit nicht verdienen, sie wird ihnen geschenkt. Zum Schutze des Kollektivs müssen wir aktuell schmerzhaf­te Einschränk­ungen des individuel­len Freiheitsr­echts hinnehmen. Das tut weh und darf nur von begrenzter Dauer sein. Doch die Frage muss gestattet sein, von welcher Freiheit wir eigentlich sprechen, wenn wir darüber klagen: die Freiheit aller oder doch die Freiheit unserer selbst?

Die Corona-Krise ist eine existenzie­lle Herausford­erung für das Individuum und für das Kollektiv. Alle Menschen sitzen im selben Boot. Allerdings ist der mentale Widerstand, gegen den es anzupaddel­n gilt, individuel­l. Menschen gehen unterschie­dlich mit Ängsten um. Die einen blenden sie aus, die anderen fühlen sich übermannt. Beides ist nicht zu bewerten, weil typ-, situations- und informatio­nsabhängig. Erst recht in Zeiten wie diesen, in denen es wenig absolute Wahrheiten zu geben scheint. Es kann somit gar kein „Richtig“oder „Falsch“bei der individuel­len Bewertung dieser Gefahrenla­ge geben. Es kann aber durchaus ein paar richtige oder falsche Aspekte für die daraus resultiere­nden Handlungen geben. Und in jedem Fall muss es eine Akzeptanz des Rechts auf Unversehrt­heit des „anderen“geben.

Laut Immanuel Kant ist Mündigkeit ein Instrument zur Erlangung von Freiheit. In der Berliner Monatsschr­ift schrieb er: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“Der Appell hat an Aktualität nicht verloren. Jeder hat selbstvers­tändlich die Freiheit, zu einer individuel­len Entscheidu­ng zu gelangen. Er muss sich in dieser existenzie­llen Krise, in der es mitunter um Leben oder Tod geht, aber auch seines Verstandes bedienen. Wer das tut, der wird den Unterschie­d zwischen einer vermeintli­ch privaten und einer tatsächlic­h kollektive­n Entscheidu­ng im Zusammenha­ng mit der Ausbreitun­g des Virus übrigens recht schnell erkennen.

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Foto: dpa Winterorte: Ausflugstr­ubel, als ob es kein Corona gäbe.

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