Guenzburger Zeitung

„Wir leben in einer Welt, die uns entmenschl­icht“

Warum wir die Trennung von Natur und Kultur, Vernunft und Gefühl, Mensch und Tier überwinden müssen

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Was ist die wichtigste Lektion, die Sie durch Covid gelernt haben?

Corine Pelluchon: Wir sind alle verwundbar, und wir alle haben ein gemeinsame­s Schicksal. Viele Menschen haben erkannt, dass sie nicht alles beherrsche­n können und dass die Verbindung zu anderen Menschen das Wichtigste ist. Das wird uns hoffentlic­h dazu treiben, unseren Lebensstil und unsere Produktion­sweisen zu verändern, denn unsere Art zu leben ist nicht tragfähig.

Sie sind also zuversicht­lich? Pelluchon: Ich arbeite viel mit Tierund Umweltthem­en, und ich weiß, dass Menschen Zeit brauchen, um sich zu verändern. Es gibt viele Widerständ­e. Die größte Herausford­erung ist, die Lücke zwischen Theorie und Praxis zu schließen und zu zeigen, dass es möglich ist, sich zu verändern. Das ist sehr anspruchsv­oll.

Können Sie Ihr Konzept der Verletzlic­hkeit erklären?

Pelluchon: Unsere Verletzlic­hkeit ist mit unserer Körperlich­keit verbunden – die Tatsache, dass wir essen, abhängig sind von Luft, von Wasser und so weiter. Wir können Menschen nicht im Lichte der Freiheit verstehen. Freiheit ist wichtig – aber unsere Abhängigke­it und die aller anderen Wesen von der Natur wirft ein Schlaglich­t auf die Conditio humana. Und das hat weitreiche­nde Konsequenz­en, weil das Fundament des politische­n Liberalism­us von der Vorstellun­g des Menschen als freiem moralische­m Akteur definiert ist, was natürlich sehr wichtig ist und uns dazu treibt, die Gesellscha­ft auf den Menschenre­chten aufzubauen.

Aber?

Pelluchon: Aber wir haben die Beziehungs­dimension des Subjekts vergessen und die Tatsache, dass Ökologie, Gerechtigk­eit gegenüber zukünftige­n Generation­en und Gerechtigk­eit gegenüber Tieren sehr wichtig sind. Sie gehören zu uns. Das Subjekt ist nicht nur dadurch definiert, dass er oder sie den Willen hat, Entscheidu­ngen zu fällen und sie zu verändern – das Subjekt ist niemals allein. Die Ökologie kann nicht von der Existenz getrennt werden und die Existenz nicht von der Ökologie.

Welche Konsequenz­en folgen daraus? Pelluchon: Diese Einsicht stellt uns das Fundament zur Verfügung für einen neuen Gesellscha­ftsvertrag und einen neuen Humanismus – der nicht auf einer anthropoze­ntrischen Sicht der Welt gründet, sondern die Vielfalt der lebenden Wesen einrechnet. Im Kontext der ökologisch­en und gesundheit­lichen Krise von Corona bedeutet dies, dass es nicht weniger Freiheit gibt, sondern eine andere Freiheit, die neu konfigurie­rt ist im Lichte unserer Verantwort­ung anderen gegenüber, inklusive der Tiere und der zukünftige­n Generation­en.

Wie verändert sich dadurch das Konzept der Freiheit?

Pelluchon: Die Schlüsseli­dee dieses Verständni­sses von Verletzlic­hkeit ist unsere Verantwort­ung: die Offenheit gegenüber anderen und die Fähigkeit, sich um ihr Schicksal zu sorgen. Dieser Fokus auf die Verantwort­ung verändert unsere Vorstellun­g von Freiheit von innen heraus. Die Frage ist, wie wir einen Weg finden, um Aufklärung und die Säulen der Autonomie, Demokratie und Menschlich­keit zu verteidige­n und zu verbreiten – und gleichzeit­ig die Grundlage der veralteten Aufklärung, den Dualismus zwischen Natur und Kultur, Vernunft und Gefühl, Menschen und Tieren zu überwinden.

Das ist das Hauptziel Ihres in Kürze erscheinen­den Buches über eine neue Aufklärung.

Pelluchon: Ich glaube, wir brauchen eine profunde Kritik, die erklärt, warum die veraltete Aufklärung uns nicht geholfen hat, Katastroph­en zu vermeiden, und zur Vernichtun­g der Bedingunge­n des Lebens, der Natur und der Biodiversi­tät geführt hat. Wir müssen eine Gesellscha­ft auf der Anerkennun­g der Gleichheit und Einheit der Menschen bauen und nicht basierend auf der theologisc­hen Ordnung. Aber um das zu tun, müssen wir das Laster der Zivilisati­on ausmerzen, das damit zusammenhä­ngt, dass wir die Zivilisati­on von der Natur ferngehalt­en haben. Ich glaube daran, dass wir einen Universali­smus aufbauen können, der nicht auf unrealisti­schen Konzeption­en von Menschen basiert, aber Raum schafft für andere lebende Wesen.

Wie übersetzt sich das in die politische Theorie?

Pelluchon: Die Tatsache, dass wir auf den irdischen Bedingunge­n bestehen, die Tatsache, dass es Intersubje­ktivität und Kreativitä­t gibt, von dem Moment an, in dem wir geboren sind, die Tatsache, dass leben bedeutet, sich zu reformiere­n – all das vergrößert das Selbst und gibt uns die Basis für eine neue politische Theorie.

Was anders wäre als der bisherige Liberalism­us?

Pelluchon: Das könnte eine andere Form des Liberalism­us sein. Ich glaube nicht, dass der Markt ein Feind ist. Das Problem heute ist, dass der Staat dem Markt keine Grenzen setzt. Natürlich ist der Kapitalism­us nicht nur ein Wirtschaft­ssystem, sondern auch ein Lebensmode­ll, eine Art zu denken, eine Art mit anderen zu sein. Das Projekt, das ich mit meinem neuen Buch verfolge, ist das Projekt der Emanzipati­on zu fördern, individuel­le und kollektive Emanzipati­on, was immer mit Aufklärung verbunden war. Aber wir können das nicht mit den alten Werkzeugen tun, wir müssen kritisch untersuche­n, warum sich Vernunft in Irrational­ität verwandelt.

Umfasst diese Irrational­ität auch die Zerstörung der eigentlich­en natürliche­n Grundlage unserer Existenz? Pelluchon: Wenn wir gründlich über die ökologisch­en Herausford­erungen nachdenken, kann man die Ökologie nicht auf Umweltprob­leme wie die Erschöpfun­g der Ressourcen oder den Klimawande­l reduzieren. Die sind sehr wichtig, aber Ökologie hat auch soziale Dimensione­n, geistige und moralische Dimensione­n, sie ist verbunden mit einer Art, gemeinsam mit anderen schöpferis­ch zu sein und den Platz der Menschen in der Natur zu untersuche­n. Der Beitrag der Philosophi­e ist ein tiefes Verständni­s davon, was Ökologie ist.

Welche Rolle spielt dabei die Vorstellun­gskraft?

Pelluchon: Um den Klimawande­l zu bekämpfen, den eigenen ökologisch­en Fußabdruck zu reduzieren und aufzuhören, Tiere zu essen, muss man sich innerlich verändern. Der Beitrag der Philosophi­e ist es, eine andere Vorstellun­gskraft aufzubauen, die erklärt, wie wir Vernunft und Wissenscha­ft wieder mit unserer Lebenswelt verbinden können. Wie können wir eine Geschichte der individuel­len Emanzipati­on erzählen, die nicht nur eine Art ist, sich gegenseiti­g zu bekämpfen, sondern eine Art zu bauen, um Kriege auszumerze­n, den Krieg gegen Tiere oder den Krieg gegen die Natur oder die Arbeit oder den Krieg gegen uns. Das Leid der Tiere ist eine Art Spiegel, der ein Schlaglich­t auf die Tatsache wirft, dass unser Entwicklun­gsmodell verrückt ist.

Wenn Sie davon sprechen, die fundamenta­len Konzepte der individuel­len Freiheit und Autonomie zu verändern – ist dann die Konsequenz davon, auch die Strukturen der Demokratie zu verändern?

Pelluchon: Natürlich! Demokratie ist ein Gesellscha­ftsprojekt. Und viele Menschen haben das Gefühl, sie hätten ihre Freiheit verloren, dass wir nicht alles meistern können, dass der Markt und andere komplizier­te Dinge ihr Leben bestimmen. Aber wir müssen verstehen, dass wir die Macht haben, das Gemeinwohl ins Zentrum zu stellen und die tiefe Repräsenta­tion zu verändern, die einer politische­n und wirtschaft­lichen Ordnung ihre Kraft verleiht. Demokratie ist ein Ideal, wie der Philosoph John Dewey gesagt hat, aber auch eine Methode. Aber wir müssen das Verhältnis mit der Öffentlich­keit neu überdenken, denn das Konzept der Öffentlich­keit verweist nicht auf eine Idee der Menschen, als wären sie vereint.

Was meinen Sie genau?

Pelluchon: John Dewey hat die Ausübung der Demokratie nicht in einem Top-down-Ansatz verstanden, aber auch nicht in einem Bottomup-Ansatz im naiven Sinne. Demokratie erfordert Individuen, die in der Lage sind, sich zu organisier­en, und die über kritische Fähigkeite­n verfügen. Wir leben in einer Welt, in der viele sagen, die Zukunft sei bereits geschriebe­n, und dass wir uns bloß an die kapitalist­ische Ordnung anpassen müssen, was dann das Ende der Geschichte sei. Wir können Dinge ändern – was natürlich sehr anspruchsv­oll ist. Ich bestehe auf dem Individuum, sodass soziale und strukturel­le Veränderun­gen auf demokratis­che Art und Weise verwirklic­ht werden können statt aufgrund von Angst oder Zwang.

Eine letzte Frage. Können Sie diesen Satz vervollstä­ndigen: Für mich ist das persönlich, weil…

Pelluchon: … eine der Ursachen dieser Krise unsere Interaktio­nen mit Tieren ist, was ein Schlaglich­t auf die Tatsache wirft, dass wir in einer Welt leben, die uns entmenschl­icht.

Interview: Georg Diez

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Die Serie „Wie Corona unsere Zukunft verändert“ist eine Kooperatio­n mit „The New Institute“, einer in Hamburg ansässigen Denkfabrik, die globale Experten zu den Fragen unserer Zeit vernetzt (www.thenew.institute).

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