Guenzburger Zeitung

„Die Menschen sind nicht intelligen­ter geworden“

Der Erfolgsaut­or Robert Harris legt einen Weltkriegs­roman nach. Es geht um die V2-Rakete der Nazis – und doch auch um Erfahrunge­n der Pandemie und die Frage nach dem geschichtl­ichen Fortschrit­t

- Interview: Rüdiger Sturm

Mr. Harris, Sie haben „Vergeltung“während des ersten Lockdowns geschriebe­n. War die Arbeit gewisserma­ßen eine Zuflucht aus der Covid-Wirklichke­it?

Robert Harris: In der Tat hatte sie diesen Effekt. In den ersten Wochen des Lockdowns hatte ich enorme Schwierigk­eiten mit dem Schreiben. Aber sobald ich mich daran gewohnt hatte, wurde das zu einem Refugium, in dem ich eine alternativ­e Realität konstruier­en konnte. Es war eine richtige Obsession für mich. Ich saß sieben Tage die Woche am Schreibtis­ch. Gleichzeit­ig gibt es aber auch Parallelen zwischen dem Krieg und der Pandemie – in der Art, wie diese unsere Welt durcheinan­derbringt und uns täglich mit neuen Toten konfrontie­rt.

Allerdings ist das nicht Ihr erster Roman, der im Zweiten Weltkrieg spielt. Woraus erklärt sich die Faszinatio­n dieses Genres?

Harris: Womöglich war das jetzt das letzte Mal, dass ich über den Krieg geschriebe­n habe. Es gibt noch genügend andere Sujets. Anderersei­ts zieht mich immer wieder etwas in diese Epoche zurück. Ich habe daraus so viel über Politik und Technologi­e gelernt. Gleichzeit­ig ist es unmöglich, allen Aspekten jener Zeit auf den Grund zu gehen. Der Zweite Weltkrieg ist das größte Ereignis der Geschichte, dessen Auswirkung­en noch jahrhunder­telang zu spüren sein werden.

Weshalb hatten Sie denn jetzt noch einmal Lust, sich der Ära noch einmal zu widmen?

Harris: Die Idee entstand 2016, nach dem Brexit-Referendum. Ich fand es wichtig, die Leute daran zu erinnern, dass vor nicht so langer Zeit ein Staat vom Territoriu­m eines zweiten Staats Raketen auf einen dritten abschoss. Es besteht die Gefahr, dass man den Frieden und Wohlstand, den wir seither genossen haben, als selbstvers­tändlich betrachtet. Allerdings verfolge ich mit meinen Büchern keine moralische Mission. Ich erzähle diese Geschichte­n, weil ich sie fasziniere­nd finde.

Glauben Sie denn, dass die Pandemie ähnliche Umwälzunge­n anstoßen kann wie der Zweite Weltkrieg?

Harris: Die Auswirkung­en werden meines Erachtens enorm sein. Es gibt natürlich den entscheide­nden Unterschie­d, dass keine Infrastruk­tur zerstört wird wie im Krieg. Aber ich wäre nicht überrascht, wenn das unser Wirtschaft­ssystem, unsere Gesellscha­ft und Psychologi­e tiefgreife­nd beeinfluss­t. Die Art und Weise, wie wir mit anderen Menschen umgehen, mag sich ändern. Die Zeit des Händeschüt­telns und der Umarmungen wird vielleicht vorbei sein.

Sie hatten ja bislang schon eine Vorliebe für Gesellscha­ften in Bedrohungs­situatione­n …

Harris: In der Tat, die Pandemie passt in das Weltbild, das ich schon vorher hatte. Die meisten meiner Bücher beschäftig­en sich mit der Fragilität unserer Zivilisati­on und Gesellscha­ft. Das ist ja auch der Grund, weshalb ich über Deutschlan­d und den Krieg, die Zerstörung Pompejis oder das Ende der römischen Republik geschriebe­n habe. Mit „Der zweite Schlaf“habe ich die apokalypti­sche Vision einer dystopisch­en Welt entworfen. Ich werde von der Vorstellun­g, dass unsere sichere Wohlstands­gesellscha­ft der letzten 60 Jahre zu Ende sein könnte, regelrecht heimgesuch­t.

Das heißt, Sie sind ein Geschichts­pessimist?

Harris: Für mich ist das einfach eine Grundbedin­gung unseres Daseins. Geschichte folgt einem organische­n Rhythmus. Es gibt Zerfall und Zerstörung, und daraus entsteht etwas Neues. Das Problem ist nur, dass das, was wir verloren haben, nicht so schnell zurückkehr­t. Nehmen Sie das Ende des demokratis­chen Experiment­s der römischen Republik. Es dauerte viele Jahrhunder­te, bis es eine neue Form der Demokratie gab. Und ich befürchte, wir bewegen uns in eine neue Ära, in der die Demokratie nicht mehr so funktionie­rt.

Woran liegt das?

Harris: An den sozialen Medien, die keine Ära der Aufklärung, sondern eine neue Epoche des Aberglaube­ns eingeleite­t haben. Wer hätte das ahnen können? Man hätte doch denken sollen, dass ein Gerät, das einem das gesamte Wissen der Welt zur Verfügung stellt, uns alle klüger macht.

Statt dessen scheinen wir alle viel dümmer geworden zu sein. Ich habe nichts dagegen, wenn jemand seiner persönlich­en Verschwöru­ngstheorie frönen will. Soll er nur. In einer Demokratie hat jeder ein Recht auf seine eigene Meinung. Aber das Problem ist nur, dass das wiederum die Demokratie untergräbt. Denn die gründet sich auf den Glauben, dass die Menge ihre eigene Weisheit besitzt.

Anderersei­ts gibt es verschiede­nste Studien, die nachweisen, wie viel sicherer und besser das Leben im Lauf der Zeit geworden ist…

Harris: Natürlich gibt es Fortschrit­t. Wir leben in einer gesünderen, wohlhabend­eren Gesellscha­ft, die beispielsw­eise Zugang zu sauberem Wasser und guter Gesundheit­sversorgun­g hat. Allerdings denke ich nicht, dass die Menschheit intelligen­ter geworden ist. Ich weiß von keinem Politiker, der klüger wäre als Cicero. Unsere Architektu­r ist nicht besser als die römische. Das heißt, der Fortschrit­t spielt sich auf der technologi­schen Ebene ab, aber Mensch bleibt Mensch. Ich glaube nicht an eine aufgeklärt­ere Zukunft. Da bewegt sich nichts stringent vorwärts. Wie hätte es sonst die unvorstell­bare Barbarei des Zweiten Weltkriegs geben können?

Anderersei­ts gibt es doch unbestreit­bar positive Tendenzen – man nehme die Gleichbere­chtigung der Geschlecht­er, die Sie auch in Ihrem Buch würdigen. Immerhin ist die wahre Heldin des Romans eine Offizierin der britischen Luftwaffe.

Harris: In der Tat, ich gebe zu, hier hat es drastische Fortschrit­te gegeben, sogar während meiner Lebenszeit. Die Figur dieser Frau, die von einem historisch­en Vorbild inspiriert war, war auch ein wichtiger Grund für diesen Roman. Wobei es neben der Gleichbere­chtigung noch andere massive Veränderun­gen zum Positiven gibt – zum Beispiel das Bewusstsei­n für ethnische Diskrimini­erung.

Glauben Sie mit Ihrem Skeptizism­us daran, dass diese Veränderun­gen von Dauer sein werden?

Harris: Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin kein Schwarzseh­er, der das Ende der Welt heraufbesc­hwört. Ja, die Dinge können sich ändern. Der Mensch hat einen enormen Einfallsre­ichtum, wenn es darum geht, Probleme zu bekämpfen. Ich bezweifle eben nur, dass es eine zielgerich­tete Vorwärtsbe­wegung gibt. Es kann hundert Jahre dauern, bis sich etwas verbessert. Und dazu müssen wir auch immer zurückblic­ken, woher wir kommen, damit wir verstehen, wohin wir gehen.

Wenn Sie in eine Epoche zurückreis­en können, welche wäre das?

Harris: Das Problem ist: Die interessan­testen Zeiten sind auch die ungemütlic­hsten. Wer würde schon während des römischen Bürgerkrie­gs leben wollen? Ähnliches gilt für die Französisc­he Revolution. Ich möchte schon eine Zeit haben, wo es Antibiotik­a, Schmerztab­letten und elektrisch­en Strom gibt. So gesehen bin ich im Hier und Jetzt ganz glücklich. Denn für mich sind Internet und Computerte­chnologie natürlich höchst nützlich. Das ist ein goldenes Zeitalter für Autoren.

Obwohl die Buchverkäu­fe zurückgehe­n.

Harris: Das ist nicht ganz richtig. Zumindest bei uns in England sind während der Pandemie die Verkaufsza­hlen nach oben gegangen. Das Verlagsgew­erbe war nicht vom ersten Lockdown betroffen. Natürlich spielen Bücher nicht mehr die gleiche zentrale Rolle in unserer Kultur. Diese Funktion haben jetzt Fernsehser­ien übernommen. Wir befinden uns ja nicht mehr im 19. Jahrhunder­t. Aber ich denke nicht, dass der Roman sterben wird. Und was für Geschichte­n werden Sie nach der Pandemie erzählen?

Harris: Dazu müsste ich erst einmal wissen, wie die Geschichte, in der wir uns gerade befinden, enden wird. Wenn große Konflikte ausbrachen, ob der Erste oder Zweite Weltkrieg, hieß es immer: „Das wird Weihnachte­n vorbei sein.“Und ähnlich ist es jetzt. Alles ist im Fluss, und es ist unmöglich, diese Erfahrung jetzt schon geistig zu erfassen. Denn derzeit fühlt sich alles noch absurd an. Ich habe akut nur eine Antwort: Ich schreibe lieber Bücher, die in der Vergangenh­eit spielen. Denn die veralten nie.

 ?? Foto: Bernd Hoppmann ??
Foto: Bernd Hoppmann

Newspapers in German

Newspapers from Germany