Von Realpolitik und „Dreampolitik“
Die Amerikaner beklauen die Deutschen ständig (und wir die Amerikaner auch, aber dies ignorieren wir heute). Die Amerikaner rauben uns Wörter, vom „alpenglow“(Alpenglühen) über „hefeweizen“und „katzenjammer“bis zu „to yodel“(jodeln) und „zeitgeist“. Die „realpolitik“hat es auch über den Atlantik geschafft, meint in den USA aber nicht so sehr Skrupellosigkeit und Egoismus, sondern das selten gewordene politische Handeln – Abstimmungen und Erlasse also, die zu Gesetzen führen.
Diese Realpolitik steht im Gegensatz zur von Schriftstellerin Joan Didion definierten „Dreampolitik“, welche mit Wut hantiert, mit erregten Fantasien. In den USA brüllen Republikaner, die nichts zu entscheiden haben, die Lüge von der „gestohlenen Wahl“durchs polarisierte Land, weil diese Lüge populär ist. Andere Republikaner, jene realpolitischen und durchaus technokratischen Wahlhelfer, Gouverneure, Staatsanwälte an den Schaltstellen
der Republik sagen, es habe keinen Wahlbetrug gegeben, bloß sieben Millionen Stimmen Vorsprung für Joe Biden.
Realpolitik und „Dreampolitik“nähern sich in den USA einander an. Populismus wirkt: Wenn der real existierende Präsident ein Dreampolitiker ist, zerstört der Hass das Vertrauen in die Institutionen. Die amerikanische Demokratie indes hat gehalten – wegen der Vernunft der Leute.
Wenn ich nach dem vergangenen Jahr, das ich zu drei Vierteln in den USA und zu einem Viertel in Deutschland verbracht habe, über die Unterschiede zwischen den Ländern nachdenke, ist es vor allem dieser: Die „Dreampolitik“ist in Deutschland stiller. Tichys Einblick ist ja harmlos, hier wird weniger gehetzt als in den USA, was das
Land solidarischer wirken lässt, funktionsfähig und robust. Anfangs habe ich mich gefragt, warum Deutschland aus der Ferne kraftvoll, von innen betrachtet so fragil erschien.
Eine Pandemie verzeiht keine Fehler, schon gar nicht jene im entscheidenden Moment; mit „Dreampolitik“hat das wenig zu tun. Die deutsche Vorbereitung auf die winterliche CovidWelle war langsam, unpräzise und unflexibel; wir alle kannten die Prognosen der Epidemiologen, aber der Stolz auf den Erfolg in der ersten Welle war groß. Die Konferenzen von Kanzlerin und Ministerpräsidenten wurden zögerlicher und waren nicht mehr effektiver als die Beschimpfungen im amerikanischen Senat. Zeit verstrich, obwohl Tempo unsere Waffe ist.
Zeit verstreicht schon wieder: Die Impfungen laufen nicht an, werden zum „Berliner Flughafen der Pandemie“(Sascha Lobo).
In der deutschen Variante der Realpolitik muss es nicht immer um die europäische Idee gehen (die für die amtierende Regierung auch nicht weiter bedeutend ist, wenn Tempolimit, Exporte oder Migration die Themen sind). Hin und wieder sind auch nicht die USA unser Maßstab, die gleichfalls an der Aufgabe einer schnellen Impfstrategie scheitern.
Neuseeland war vom ersten Moment der Pandemie an wach, Israel ist es jetzt, Singapur, Taiwan, Südkorea und China auch – manche Demokratien und Diktaturen kriegen es also hin, andere Diktaturen und andere Demokratien nicht. Es gibt Phasen, in denen nicht einmal mehr der Wettstreit der Systeme wichtig ist.
Wer die Herstellung eines Impfstoffes im eigenen Land mit hunderten von Millionen Euro fördert, wie die Bundesregierung
es bei Biontech getan hat, sollte gleich danach den effektiven Schutz der eigenen Bürgerinnen und Bürger planen. Im Katastrophenfall, jetzt, zählt, ob kompetente Menschen am entscheidenden Ort schnell handeln.