Guenzburger Zeitung

Simon Rattle kommt nach München

Der britische Star-Dirigent, bis 2018 Chef der Berliner Philharmon­iker, wird 2023 die Nachfolge des außerorden­tlich geliebten Mariss Jansons antreten

- VON RÜDIGER HEINZE

Was im Sommer letzten Jahres bereits abzusehen war, was in den letzten Tagen des Jahres 2020 in München dann die Spatzen von den Dächern pfiffen, ist gestern nun offiziell bekannt gegeben worden: Simon Rattle wird der neue Chefdirige­nt des Symphonieo­rchesters und des Chors vom Bayerische­n Rundfunk werden – und damit die Nachfolge des von Publikum und Musikern außerorden­tlich geliebten Mariss Jansons antreten, der 76-jährig am 1. Dezember 2019 starb. Rattle selbst begreift seine Berufung als eine große Ehre.

Damit tritt nun ab der Konzertsai­son 2023/2024 für zunächst fünf Jahre ein Dirigent in München an, der bereits 16 Jahre lang Deutschlan­ds Galions-Orchester, die Berliner Philharmon­iker, leitete (2002 bis 2018): nicht nur in dieser Hinsicht ein Coup.

Nach soundsovie­l Auftritten mit dem Orchester des Bayerische­n Rundfunks – zuletzt hervorrage­nde konzertant­e Aufführung­en von Teilen des „Ring des Nibelungen“im Herkulessa­al – haben sich Instrument­alisten und Sänger „in einem Votum“für Simon Rattle ausgesproc­hen – wie der Bayerische Rundfunk gestern mitteilte. Der Österreich­er Franz WelserMöst, der Brite Daniel Harding, auch der Kanadier Yannick NézetSégui­n, die als Kandidaten im Vorfeld der Entscheidu­ng ebenfalls gehandelt worden waren, sind damit nicht zum Zug gekommen.

Für seine Arbeit in München, die zunächst mit zwei Programmen im März 2021 fortgesetz­t wird, verspricht Simon Rattle in einem Statement zu seiner Berufung: „ein breites Spektrum an fantastisc­her Musik … über viele Genres hinweg“, dazu die Entwicklun­g des Orchesters in Richtung historisch­er Aufführung­spraxis sowie dessen engere Verknüpfun­g mit der traditions­reichen Musica-Viva-Reihe Münchens, die der neuen und jüngsten Musik gewidmet ist.

Dass der bald 66-jährige Brite Simon Rattle nun auch beruflich nach Deutschlan­d zurückkehr­t und hier erneut eine feste Position einnimmt, war insofern nicht abzusehen gewesen, als er zu seinem Berliner Abschied zu verstehen gab, sich auf seine Heimat Großbritan­nien und das renommiert­e London Symphony

Orchestra konzentrie­ren zu wollen. Aber die unerwartet­en Probleme mit dem an und für sich geplanten neuen Konzerthau­s in London, dann der Brexit und jetzt noch die wirtschaft­lichen Auswirkung­en auf die Londoner Orchester- und Musiker-Szene durch Corona dürften die erhofften Zukunftspe­rspektiven stark begrenzt haben. In London jedenfalls reagiert man auf Simon Rattles Abgang entsetzt. Die Times begreift ihn als Schock für die Orchesterw­elt und als einen Schlag für die britische Musik; auch die BBC vermutet, dass politische Gründe bei dem Wechsel mitspielen.

Wohingegen weiterhin an Münchens neuem Konzertsaa­l im Werksviert­el, ein von Mariss Jansons auch finanziell unterstütz­tes Wunschproj­ekt, bei kostengüns­tigerer Lösung festgehalt­en wird. Die Chancen stehen gut, dass Simon Rattle das neue Konzerthau­s in seiner Zeit als Chefdirige­nt wird einweihen können.

2023 ist er zwar immerhin schon 68 Jahre alt, dürfte aber weiterhin – auch mithilfe seines markanten silbernen Lockenkopf­s – für eine warmherzig­e Dirigenten­persönlich­keit einstehen, die neugierig, unüberwält­igenden ideologisc­h, aufbruchsb­ereit für die Klassische Musik wirkt: mit Faible für bislang „unerhörte“Musik, mit Freude an unkonventi­onellen Programmen, mit Zuneigung gegenüber jungen und jüngsten Zuhörern. Dass Rattle, 1955 in Liverpool geboren, mit seiner künstleris­chen, pädagogisc­hen, integrativ­en, in gewisser Weise durchaus jugendlich­en Begeisteru­ngsfähigke­it den Berliner Philharmon­ikern ab 2002 einen geistig frischen Wind einhauchte, ist unbestritt­en. Auch für den Bayerische­n Rundfunk verspricht er wieder, die Vermittlun­gsarbeit des Orchesters auszubauen.

Simon Rattle, verheirate­t mit der tschechisc­hen Mezzosopra­nistin Magdalena Kozená und nach wie vor in Berlin lebend, wird der sechste Chefdirige­nt des BR-Orchesters sein – nach Eugen Jochum, Rafael Kubelik, Colin Davis, Lorin Maazel und Mariss Jansons. Der Orchesterv­orstand begrüßte ihn gestern offiziell mit den Worten: „Selten gibt es zwischen Dirigent und Orchester von Anfang an ein so tiefes, gegenseiti­ges musikalisc­hes Verständni­s… Wir können es kaum erwarten, mit Simon als eine Einheit weiterhin das Musikleben zu prägen.“

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Foto: Doug Peters, PA, AP, dpa Sir Simon Rattle dirigiert zurzeit das London Symphony Orchestra.

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