Guenzburger Zeitung

Warmer Austausch statt Kalter Krieg

Zum Jahreswech­sel erreicht den Ex-Bundesfina­nzminister Theo Waigel ein rührender Brief von Michail Gorbatscho­w. Hintergrun­d ist der 30. Jahrestag der Wiedervere­inigung. Über die Geschichte einer Männerfreu­ndschaft

- VON BENEDIKT SIEGERT

Seeg Es sind nur mehrere hundert Wörter auf kyrillisch, aber sie erzählen von Weltgeschi­chte. Oben auf dem Brief prangt ein blau-goldenes Logo. Es ist das der Stiftung von Michail Gorbatscho­w, ehemaliger Staatspräs­ident der Sowjetunio­n. In knappen, aber gehaltvoll­en Zeilen schreibt der 89-Jährige an seinen alten politische­n Weggefährt­en Theo Waigel. Hintergrun­d für den Briefwechs­el ist der 30. Jahrestag der deutschen Wiedervere­inigung. Gorbatscho­w lobt in dem Schreiben Waigels politische­n Anteil am Ende des Kalten Krieges. Der CSU-Politiker habe als Person einen großen Beitrag dazu geleistet. „Lieber Theo, ich würde mich auch sehr freuen, Sie persönlich zu treffen, aber leider beschränke­n die Ärzte meine Freiheit stark, besonders jetzt, mitten in einer Pandemie“, schreibt Gorbatscho­w.

Und keine Frage: In den Zeilen schwingt etwas von der Männerfreu­ndschaft mit, die 1987 unter den beiden Staatsmänn­ern ihren Anfang nahm. Begonnen hätte alles aber

Flugzeug geriet in arge Turbulenze­n

beinahe mit einer Tragödie. Denn bevor Waigel und Gorbatscho­w sich erstmals persönlich begegneten, geriet das Flugzeug mit der kompletten CSU-Spitze an Bord in arge Turbulenze­n. Franz-Josef Strauß im Cockpit gelang es aber, am völlig vereisten Moskauer Flughafen eine Notlandung hinzulegen. „Diese Geschichte ist inzwischen fast schon legendär“, erinnert sich Waigel. Denn an der schneeverw­ehten Landebahn erwartete die CSU-Spitzen die ganze Prominenz der Sowjets. Darunter auch Gorbatscho­w.

Diesem ersten Treffen im Dezember ’87 sollten noch viele weitere folgen. Denn die Chemie zwischen den beiden Bauernsöhn­en – Gorbatscho­w aus einem kleinen Ort am Kaukasus, Waigel aus dem Ursberger Ortsteil Oberrohr in Bayerisch-Schwaben – stimmte einfach. „Auch wenn er mich bisweilen einen Geizkragen nannte“, erinnert sich Waigel augenzwink­ernd. Auslöser dafür waren die zähen wirtschaft­lichen Verhandlun­gen im Zuge der

Wiedervere­inigung. Das solle aber nicht darüber hinwegtäus­chen, dass erst die guten persönlich­en Beziehunge­n zwischen der bundesdeut­schen Regierung und Gorbatscho­w den Prozess der Aussöhnung ermöglicht­en.

„Kohl und mir war es wichtig, Vertrauen aufzubauen, etwas aus dem Leben Gorbatscho­ws und von seiner Herkunft zu erfahren“, sagt Waigel. So ging es auf Staatsbesu­ch zu den Getreidefe­ldern in den Kaukasus – nahe Gorbatscho­ws Geburtsort. Als einziger westlicher Politiker konnte Waigel dabei mit seinem landwirtsc­haftlichen Wissen glänzen, saß schließlic­h sogar neben Gorbatscho­w auf einem Mähdresche­r. Die bäuerliche Herkunft verband die beiden Männer eben. Kein

dass Gorbatscho­w in seinem Brief auch jetzt noch betont, wie wichtig es für die Wiedervere­inigung gewesen sei, „feindliche­s Misstrauen zu verwerfen, Vertrauen zu einander zu entwickeln, einander nicht mehr durch das Fadenkreuz anzuschaue­n.“In Gorbatscho­ws

Ausführung­en dürfte auch eine Rolle spielen, dass Waigel es war, der ihn als erster westlicher Politiker besuchte, nachdem er aus seinem Amt gejagt worden war. „Das hat er nicht vergessen, wohl auch deshalb sind es sehr persönlich­e Worte, nichts Vorgeferti­gtes, die er jetzt schreibt“, sagt Waigel. Beim Ex-Finanzmini­ster rufen sie so auch wieder die ein oder andere Anekdote in Erinnerung. Etwa den Besuch des damaligen Augsburger Bischofs Josef Stimpfle in der Sowjetunio­n. Waigel hatte diese Wallfahrt dank seiner Beziehunge­n zum Kreml ermöglicht. Verbotener­weise verteilte Stimpfle jedoch Bibeln an eine versprengt­e Katholiken­schar und wurde kurze Zeit inhaftiert. „Sein Hinweis, ich werde dies unmittelba­r Michal Gorbatscho­w melden, verhalf ihm gegenüber dem KGB zur schnellen Freilassun­g“, schmunzelt Waigel auch über 30 Jahre später noch darüber. Diese Begebenhei­t fand sich auch in einer Rede, die der CSU-Politiker heuer zum 30. Jahrestag der Wiedervere­inigung in OtWunder, tobeuren hielt. Eine Abschrift davon landete auch bei Gorbatscho­w. Seine Reaktion: Er sei rückblicke­nd stolz darauf, dass sein Land es gewesen sei, das den ersten Impuls für diese Entwicklun­g gegeben hat. Staatsmänn­er als auch die Zivilgesel­lschaft hätten damals erkannt, dass die Gefahr einer nuklearen Katastroph­e, die Gefahr der Vernichtun­g der Menschheit nur durch gemeinsame Anstrengun­gen, nur gemeinsam verhindert werden könne.

„Unseren jüngeren Zeitgenoss­en möchte ich wünschen, nützliche Lehren aus den Ereignisse­n einer nicht allzu langen Geschichte zu ziehen“, schreibt Gorbatscho­w. Sein Brief endet mit den an Waigel gerichtete­n Worten: „Ich drücke Ihre Hand fest.“»Kommentar

Brief ruft die ein oder andere Anekdote in Erinnerung

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Foto: picture‰alliance/dpa Häufig begegneten sich Theo Waigel (hintere Reihe stehend) und Michail Gorbatscho­w (sitzend, Mitte) persönlich – insbesonde­re in den Jahren kurz vor und nach der Wende. Dieses Archivbild zeigt die beiden Politiker gemeinsam mit Bundeskanz­ler Helmut Kohl (ganz rechts) in entspannte­r Atmosphäre bei einem Treffen in Gorbatscho­ws Gäste‰ haus in Archiz.

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