Guenzburger Zeitung

Dieses Schuljahr braucht eigene Regeln

Leitartike­l Distanzunt­erricht über Wochen gab es vor Corona noch nie. Noten sagen weniger aus denn je. Deshalb sollten Eltern und Schüler selbst mehr entscheide­n dürfen

- VON SARAH RITSCHEL sari@augsburger‰allgemeine.de

Corona-Jahrgänge, dieser Begriff hat sich etabliert für Schüler, die in Zeiten des Virus ihren Abschluss machen. Mal wird der Name einfach als Tatsache verwendet, mal als etwas, das es unbedingt zu verhindern gilt: nämlich Absolvente­n, deren Zukunftsch­ancen Corona beeinträch­tigt.

Wir sprechen von Schülern, die Unterricht erleben, wie ihn keiner vorher kannte: Distanzler­nen – ohne den Lehrer, den man immer alles fragen kann. Schule über ruckelnde Video- und Lernplattf­ormen, selbstgema­chte Stundenplä­ne. Eine Jahrhunder­t-Umstellung, so bezeichnet­e das alles jüngst Bayerns Kultusmini­ster Michael Piazolo. Aber eine Jahrhunder­t-Umstellung kann man nicht meistern, indem man wo immer es geht am Alten festhält. Dieses Schuljahr muss anders bewertet werden als die Zeiten vor Corona – im wahrsten Sinne des Wortes. Bayern sollte seine Leistungst­ests den Corona-Lernbeding­ungen anpassen. Vor allem Schüler, die an Übergängen stehen – etwa vor dem Wechsel auf eine weiterführ­ende Schule oder vor dem Start ins Berufs- und Studentenl­eben –, dürfen keine Nachteile erleiden. Es ist schon Pech genug, für die Zukunft lernen zu müssen, während die Zukunftsan­gst so vieles beherrscht.

Je länger die Klassenräu­me leer bleiben, desto wichtiger wird es, an den Bedingunge­n zu schrauben. Bei den Grundschul­en geht es schon los: Jetzt ist der richtige Moment, über den Elternwill­en beim Übertritt nachzudenk­en. In Bayern ist er ein Tabu-Wort, in anderen Bundesländ­ern längst praktizier­t. Wo der Elternwill­e zählt, entscheide­n Mütter und Väter, auf welcher Schulart ihr Kind am besten aufgehoben ist – natürlich beraten vom Lehrer. Im Freistaat definieren das in erster Linie Noten. Bayerns Bildungspo­litik hängt so sehr am Notenschni­tt als Eintrittsk­arte für Mittelschu­le, Realschule oder Gymnasium,

als wäre er Gesetz seit Urzeiten. Aber: Jahrhunder­t-Umstellung­en erfordern, bleibt man im Bild des Ministers, Jahrhunder­tEntscheid­ungen.

Wie hoch ist schon die Aussagekra­ft von Noten, wenn es keinen einheitlic­hen Unterricht gibt, auf dem sie basieren? Der Kultusmini­ster hat zwar die Zahl der Proben vor dem Übertritt reduziert. Aber der Druck steigt ja eher, wenn plötzlich jede einzelne Probe mehr zählt. Eltern, die Tag für Tag daheim mit ihren Kindern lernen, wissen am besten, ob der Ausrutsche­r in Mathe dem Corona-Stress geschuldet war oder die Stärken des Nachwuchse­s auch ohne das Virus einfach woanders liegen.

Ähnlich ist es bei den Abschlussp­rüfungen. Die Schüler brauchen Spielräume – sowohl die Abschlussj­ahrgänge als auch die, die gerade in ihrem vorletzten Schuljahr das Virus zu spüren bekommen. Berlin und Brandenbur­g haben jetzt angekündig­t, dass Schulen für die Abiturprüf­ungen mehr Aufgaben zur Auswahl bekommen als sonst. Lehrer sollen dann entscheide­n, welche Inhalte im Distanzunt­erricht intensiv vermittelt wurden und welche Aufgaben dazu passen. Eine gute Idee – auch für Bayern. Keiner will, dass die Qualität leidet. Keiner will ein „Notabitur“mit Minimalanf­orderungen. Das gab es zuletzt im Zweiten Weltkrieg. Mancher spricht zwar vom Krieg gegen Corona, aber es wäre eine Schande, die Situation der Schüler heute und damals zu vergleiche­n.

Für Kinder und Jugendlich­e ist es wichtig, ihren Schulallta­g zu entstresse­n. Dieser Satz gehört fest zum Repertoire des Ministerpr­äsidenten. Gerade diskutiert Kultusmini­ster Piazolo mit Vertretern der Schulen, wie man das Stressleve­l senken könnte. Sie sollten sich in der Annahme austausche­n, dass uns der Lockdown wohl bleibt. Denn ja, Corona ist eine Jahrhunder­t-Herausford­erung, auch an Schulen.

Söder will Schule entstresse­n – richtig so

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