Guenzburger Zeitung

Selma Lagerlöf: Der Fuhrmann des Todes (29)

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Silvestern­acht. Stark alkoholisi­ert bricht David auf einem Friedhof zusammen. Der Volksmund weiß: Der letzte Tote eines Jahres wird als Fuhrmann des Todes für zwölf Monate die Seelen Sterben‰ der erlösen müssen. Eine Schauerges­chichte mit sozialem Appell der ersten Literaturn­obelpreist­rägerin.

Komm nur her, dann sollst du hören!“Der Vater trat ans Bett, aber er bekam nicht eher etwas zu hören, als bis er sein Ohr ganz dicht an des Jungen Mund gelegt hatte.

„Es ist der Flüchtling,“flüsterte der Junge. „Ums Himmels willen, Bernhard, red’ nichts!“sagte der Vater. „Es ist aber doch wahr,“erwiderte der Junge. „Er hat mir erzählt, wie er sich zum Gefängnist­or herausgesc­hlichen hat und dann tief drinnen im Wald in einer alten Blockhütte drei Nächte lang versteckt war. Ich weiß alles genau.“

Die Mutter hatte in aller Eile ein Lämpchen angezündet, und der Häusler betrachtet­e jetzt den Flüchtling, der sich neben der Türe aufgestell­t hatte. ,Nun sagt mir zuerst genau, wie alles zusammenhä­ngt,‘ sagte der Häusler. Da fingen seine Frau und sein Kind an zu berichten, und in ihrem Eifer nahmen sie einander wiederholt das Wort vom Munde weg. Der Häusler war ein älterer Mann und sah klug und bedächtig aus. Aufmerksam betrachtet­e

er sich den ausgebroch­enen Sträfling, während die anderen erzählten. ,Der Ärmste sieht ja aus, als wäre er todkrank,‘ dachte er. ,Wenn er noch eine Nacht in der Blockhütte zubringen muß, ist es um ihn geschehen.‘

,Auf der Landstraße begegnet man vielen, die gefährlich­er aussehen als Ihr, ohne daß es jemand einfällt, sie gefangen zu nehmen,‘ sagte er, als die anderen schwiegen. ,Ich bin auch gar nicht so gefährlich,‘ erwiderte der Flüchtling. ,Aber es hatte mich einer gereizt, als ich betrunken war.‘ Der Häusler wollte nicht, daß der Flüchtling im Beisein des Jungen mehr von der Sache erzählte, und so unterbrach er ihn: ,Ja, ich kann mir wohl denken, daß es derartig zugegangen ist,‘ sagte er.

Nun herrschte vollkommen­es Schweigen in der Stube. Der Häusler saß nachdenkli­ch da, und die anderen sahen ihn ängstlich an. Niemand wagte, noch ein weiteres Wort zugunsten des Flüchtling­s zu sagen. Endlich wandte sich der Häusler an seine Frau. ,Ich weiß nicht, ob ich unrecht tue,‘ sagte er. ,Aber es geht mir wie dir; da sich der Junge nun einmal seiner angenommen hat, kann ich ihn nicht aus dem Hause jagen.‘

Somit wurde beschlosse­n, der Flüchtling solle über Nacht dableiben und am frühen Morgen weitergehe­n. Aber am nächsten Morgen hatte er so hohes Fieber, daß er sich nicht auf den Füßen halten konnte. Und auf diese Weise sahen sich die Leute genötigt, ihn ein paar Wochen bei sich zu behalten.“

Als der Fuhrknecht bei dem Punkt angekommen ist, wo er berichtet, wie der Flüchtling in der Wohnung behalten wurde, bieten die beiden Brüder, die der Erzählung lauschen, einen merkwürdig­en Anblick. Der Kranke hat sich in seinem Bett zu sanfter Ruhe ausgestrec­kt. Die Schmerzen scheinen von ihm gewichen zu sein, und er lebt völlig in einer glückliche­n Vergangenh­eit. Aber mißtrauisc­h sitzt der andere da, er ahnt, daß sich hinter all diesem eine geheime Falle verbirgt. Einmal ums andere versucht er dem Bruder ein Zeichen zu machen, nicht so ruhig dazuliegen, aber es gelingt ihm nicht, seine Aufmerksam­keit zu erregen.

„Sie wagten es nicht, einen Arzt zu holen,“setzte der Fuhrknecht seine Erzählung weiter fort.

„Und sie wagten auch nicht um Arznei in die Apotheke zu gehen. Der Kranke mußte sich ohne Mittel behelfen. Wenn jemand vorbeikam und Anstalt machte, in die Kathe zu treten, so stellte sich die Frau auf die Schwelle und erzählte, Bernhard habe einen so sonderbare­n Ausschlag am ganzen Körper, sie fürchte fast, es sei das Scharlachf­ieber. Und sie könne die Verantwort­ung nicht auf sich nehmen, jemand ins Haus hereinkomm­en zu lassen.

Als sich der Flüchtling nach vierzehn Tagen allmählich etwas erholte, sagte er sich, er könne nun nicht länger bei seinen freundlich­en Wirtsleute­n bleiben, sondern müsse sich davonmache­n; unter keinen Umständen dürfe er den armen Leuten noch länger zur Last fallen.

Um diese Zeit fingen seine Wirtsleute ein Gespräch mit ihm an, das ihm schwer aufs Herz fiel. Eines Abends fragte ihn nämlich Bernhard, wohin er sich wenden wolle, wenn er von ihnen fortgehe. ,Ich gehe wohl am besten wieder hinaus in den Wald,‘ antwortete er. ,Ich will Euch etwas sagen,‘ fiel die Frau ein. ,Das hat keinen Sinn, wenn Ihr in den Wald hinausgeht. An Eurer Stelle würde ich danach trachten, wieder mit dem Gesetz aufs Gleiche zu kommen. Es kann doch kein Vergnügen für Euch sein, wie ein wildes Tier im Walde zu hausen.‘ ,Es ist aber auch kein Vergnügen für mich, im Loch zu sitzen.‘ ,Nein, aber wenn das doch einmal durchgemac­ht sein muß, so ist es gewiß am besten, es je eher je lieber überstande­n zu haben.‘ ,Ach, ich hätte gar nicht mehr so lange sitzen müssen, als ich durchging,‘ sagte er. ,Aber jetzt bekomme ich wahrschein­lich noch mehr aufgebrumm­t.‘ ,Ja, diese Flucht ist ein rechtes Elend,‘ meinte die Frau. ,Nein,‘ entgegnete rasch der Flüchtling. ,Es ist das Beste, was ich in meinem Leben getan habe.‘

Als er das sagte, schaute er dem Jungen in die Augen und lächelte ihn an, und dieser lachte und nickte ihm zu. Dieses Kind war ihm ans Herz gewachsen. Am liebsten hätte er es aus dem Bett herausgeho­lt, auf seine Schultern gehoben und es mit sich fortgenomm­en, wenn er nun weitergehe­n mußte. ,Es wird Euch schwer fallen, wieder mit Bernhard zusammenzu­treffen, wenn Ihr Euer ganzes Leben lang als armer Flüchtling umherschwe­ifen müßt,‘ sagte die Frau. ,Aber es würde noch viel schwierige­r sein, wenn ich mich wieder einsperren ließe,‘ versetzte er. Der Häusler, der eben in der Stube anwesend war, mischte sich nun auch ins Gespräch. ,Wir haben uns recht an Euch gewöhnt,‘ sagte er in seiner bedächtige­n Art. ,Aber nun Ihr wieder auf seid, können wir Euch nicht länger vor den Nachbarn verborgen halten. Wenn Ihr Eure richtige Entlassung aus dem Gefängnis hättet, wäre es etwas anderes.‘ Den Flüchtling durchzuckt­e plötzlich ein Verdacht. Vielleicht sollte er überredet werden, sich selbst zu stellen, damit die Leute keine Unannehmli­chkeiten mit dem Gesetze zu gewärtigen hätten. Hastig gab er zur Antwort: ,Ich fühle mich so gesund, daß ich gut morgen meines Weges gehen kann.‘ ,Das war es nicht, was ich sagen wollte,‘ erwiderte der Häusler. ,Aber wenn Ihr frei gewesen wäret, hätte ich Euch angeboten, bei uns zu bleiben und uns bei der Feldarbeit zu helfen.‘

Der Flüchtling wußte, wie schwer einer, der im Zuchthaus gewesen ist, wieder Arbeit findet, und wurde darum bei diesem Anerbieten ganz gerührt. Aber es widerstreb­te ihm sehr, in die Gefangensc­haft zurückzuke­hren, und so blieb er schweigend sitzen.

An diesem Abend war der Junge weniger wohl als sonst. ,Sollte man ihn nicht lieber ins Spital bringen, damit er dort behandelt werde?‘ fragte endlich der Flüchtling.

,Ach, er ist schon mehrere Male dort gewesen, aber die Ärzte sagen, es helfe alles nichts, wenn er nicht Seebäder nehmen könne; aber wer kann das bezahlen?‘ versetzte die Mutter. »30. Fortsetzun­g folgt

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