Guenzburger Zeitung

Wirkt der Lockdown?

Trotz Kontaktbes­chränkunge­n, geschlosse­ner Schulen, Geschäfte und Restaurant­s meldet das Robert-Koch-Institut täglich hohe Neuinfekti­onszahlen. Bundeskanz­lerin Merkel will nun früher über härtere Maßnahmen beraten

- VON MICHAEL POHL

Berlin Rein mathematis­ch lässt es sich leicht ausrechnen, wann ein Lockdown erfolgreic­h ist: Um 75 Prozent müssten die Bundesbürg­er ihre Kontakte mit anderen Menschen reduzieren, damit die Neuinfekti­onskurve kräftig nach unten sinkt. Allerdings lässt sich in der Wirklichke­it nicht live überprüfen oder nachmessen, ob sie das tun.

Das Team des Epidemiolo­gen Dirk Brockmann vom RobertKoch-Institut setzt deshalb auf ein technische­s Hilfsmodel­l, um der tatsächlic­hen Entwicklun­g wenigstens nahezukomm­en: Aus anonymen Handydaten der Telekom und von des Betreibers O2 werden Bewegungss­tröme errechnet, wie sich die Bundesbürg­er zwischen den Funkzellen der Mobilfunkd­aten bewegen und mit Vorjahresd­aten verglichen. Je weniger Mobilität stattfinde­t, desto geringer sind die Kontakte, mutmaßen die Wissenscha­ftler. Und tatsächlic­h zeigt der Vergleich mit der ersten Pandemiewe­lle, dass sich daraus ein Rückgang von Kontakten und Ansteckung­en ablesen lässt.

Zumindest erklären die Bewegungsd­aten, warum an Weihnachte­n und Silvester die befürchtet­e Explosion der Infektions­zahlen ausgeblieb­en ist. Und wie sich die Bundesbürg­er an die Corona-Regeln gehalten haben: Um die Weihnachts­feiertage gab es 50 Prozent weniger Mobilität, zum Jahreswech­sel 40 Prozent. Das ist fast so viel, wie auf dem Lockdown-Höhepunkt der erfolgreic­h bezwungene­n ersten Welle. Doch zum Ende der Weihnachts­ferien war die Mobilität der Deutschen trotz geschlosse­ner Schulen nur noch zwischen zehn und 20 Prozent unter den Normalwert­en. Ein Grund, warum die Politik auf deutlich mehr Homeoffice und auch weniger Wochenenda­usflüge setzt.

„An allen Stellschra­uben, die Kontakte reduzieren, müssen wir noch stärker drehen“, sagt RKIForsche­r Brockmann. Die Mobilität sinke nur langsam „Das hängt auch viel mit Pandemiemü­digkeit zusammen“, erklärt er. Doch die Kontakte müssten sinken: „Eines ist klar, das Impfen hilft uns nicht, auf diesem Niveau rauskommen, wo jeden Tag mindestens 1000 Menschen sterben.“Der Lockdown müsse massiver und effektiver werden, damit die Zahlen schnell herunterge­hen.

Bundeskanz­lerin Angela Merkel machte deshalb am A bend deutlich, dass sie sich schon kommende Woche und nicht wie geplant am 25. Januar mit den Ministerpr­äsidenten

Länder über das weitere Vorgehen in der Corona-Pandemie beraten will. Bund und Länder haben das Ziel ausgegeben mit dem Lockdown auf eine Sieben-Tages-Inzidenz von 50 Neuinfekti­onen pro 100000 Bürger zu kommen. Eine Allianz von Wissenscha­ftlern um die Max-Planck-Forscherin Viola Priesemann fordert gar den Wert 25, damit die Gesundheit­sämter selbst einen Ausbruch der britischen Coronaviru­s-Mutation

B117 unter Kontrolle halten könnten.

Andere Wissenscha­ftler, wie der Bonner Virologe Henrik Streeck nannte eine Absenkung der Infektione­n zwar wünschensw­ert. Aber solange der Winter andauere, halte er es für fast unmöglich, die Zahlen deutlich zu senken. Tatsächlic­h meldet RKI-Chef Lothar Wieler derzeit deutschlan­dweit eine Sieben-Tages-Inzidenz von über 150.

Erschwert wird die Lage dadurch, dass Corona sich wie Erkältungs­viren in der kalten Jahreszeit besonders leicht verbreitet. Allerdings liegt im kalten europäisch­en Pandemie-Musterland Finnland der Inzidenzwe­rt nur bei etwas über dreißig, in Norwegen stieg die Zahl dagegen seit Winter über achtzig.

Neben der Mobilität und dem jahreszeit­lichen Wetter ist eine weitere Unbekannte in der Lockdownde­r

Die Sieben‰Tages‰Inzidenz in Bayern liegt angesichts hoher Zahlen im Osten unter Bundesdurc­hschnitt. In Dänemark wirkt der Lockdown deutlicher als in Deutschlan­d. Die Intensivpa­tientenzah­l deutet auf eine langsame Trendwende der zweiten Welle.

Rechnung die Virus-Mutation B117. Die sogenannte britische Virusvaria­nte wurde entdeckt, als in Südostengl­and die Infektione­n nach oben schossen. In Dänemark wurden bereits 208 Fälle der Mutation nachgewies­en. Nach Großbritan­nien testet das Land am meisten auf Mutationen und wertet mehr als jede zehnte Positivpro­be aus. In Deutschlan­d wurden bislang erst acht Fälle von Mutationen bei Großbritan­nien-Reisenden bestätigt.

In Dänemark schoss die Infektions­kurve binnen drei Wochen auf einen Inzidenzwe­rt von 427 nach oben. Allerdings stürzte die Zahl in einem kaum strengeren Lockdown als in Deutschlan­d in fast der gleichen Zeit wieder nach unten. In Deutschlan­d bewegt sich die Infektions­kurve dagegen mehr oder weniger seitwärts. Allerdings gibt es dabei deutliche regionale Unterschie­de: Im alten Bundesgebi­et sinken die Neuinfekti­onszahlen langsam, im Osten steigen sie teilweise weiter: In Thüringen sogar noch immer. Bayern, Spitzenrei­ter der ersten Welle, liegt seit Jahresanfa­ng erstmals knapp unter dem Bundesdurc­hschnitt.

Verzerrt wurden die Zahlen dadurch, dass sich kurz vor Familienfe­iern an Weihnachte­n bundesweit sehr viele Menschen testen ließen und dadurch auch mehr Infektione­n entdeckt wurden. Zwischen den Jahren wurde angesichts geschlosse­ner Labore dann wieder sehr wenig getestet. Unabhängig davon zeigt allerdings die Grafikkurv­e der Corona-Intensivpa­tienten, dass das Pandemiege­schehen im Lockdown tatsächlic­h etwas zurückgeht. Allerdings verbirgt sich hinter dem Rückgang auch eine sehr tragische Entwicklun­g: Mit über 30 Prozent ist die Todesrate unter Coronapati­enten derzeit so hoch wie nie.

Und was ist mit dem Verhalten der Menschen? Das Bundesamt für Risikobewe­rtung lässt seit März die Bundesbürg­er alle zwei Wochen repräsenta­tiv vom Meinungsfo­rschungsin­stitut Kantar befragen: Demnach halten sich trotz CoronaMüdi­gkeit mit 87 Prozent so viele wie nie an die Kontaktbes­chränkunge­n. Auch die Einhaltung der Maskenpfli­cht und Abstandsge­bote liegt auf Rekordwert­en. 93 Prozent erklären, sich an die staatliche­n Anordnunge­n zu halten – mehr als im ersten Lockdown. Auch wenn nur jeder zweite Ausgangssp­erren für richtig findet, ist die Zustimmung zu den Maßnahmen insgesamt sehr hoch. Nur knapp jeder Vierte ist um seine Gesundheit beunruhigt.

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Foto: Peter Fastl Maskenpfli­cht und geschlosse­ne Geschäfte senken die Infektions­zahlen bislang nur langsam.

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