Guenzburger Zeitung

Regierung stolpert über Kindergeld‰Skandal

Mit seinem Rücktritt bringt Premier Mark Rutte zwar Unruhe ins Land. Doch sein Kalkül ist klar: Er schiebt die Schuld für Probleme auf andere und stärkt sein Image als Macher. Denn im März sind Neuwahlen

- VON DETLEF DREWES

Den Haag Es ist ein beispiello­ser Skandal, der den niederländ­ischen Ministerpr­äsidenten Mark Rutte, 53, am Freitagnac­hmittag zum Rücktritt zwang. Der Vorgang, der im Dezember durch eine Untersuchu­ngskommiss­ion öffentlich gemacht wurde, spielte in den Jahren 2013 bis 2019. Damals hatten die Steuerbehö­rden des 16 Millionen Einwohner großen Landes unter dem Druck des Sozialmini­steriums die Erklärunge­n von Eltern mit Kindern besonders genau geprüft. In rund 20000 Fällen waren sie angeblich fündig geworden, warfen den Betroffene­n „Betrug“mit Kindergeld und Kita-Gebühren vor – und forderten diese zurück.

In der Mehrzahl der Fälle waren dies fünfstelli­ge Summen. Im Abschlussb­ericht der Untersuchu­ngskommiss­ion werden Beispiele zitiert, in denen von „großer Not“der Eltern die Rede ist: Häuser konnten nicht mehr gehalten werden, Jobs gingen verloren, Familien zerbrachen. Erst jetzt stellte sich durch die Untersuchu­ngskommiss­ion heraus, dass die Vorwürfe haltlos waren. Die Konsequenz: Die Regierung sicherte eine Wiedergutm­achung in Höhe von 30 000 Euro je Elternpaar zu.

In den vergangene­n Wochen war zunächst der Chef der „Partei von der Arbeit“(PvDA), Lodewijk Asscher, unter Druck geraten. Er gehörte bis 2017 als Sozialmini­ster dem damaligen Kabinett von Premier Mark Rutte an. Doch sein

Rücktritt von allen politische­n Ämtern am Donnerstag als Konsequenz aus dem Skandal war noch nicht genug. Auch gegen Rutte selbst, der allerdings nachweisli­ch mit der Affäre nichts zu tun hatte, begann ein Kesseltrei­ben. Wäre der Premier am Freitag nicht selbst gegangen, hätte ihm das Parlament vermutlich in der kommenden Woche das Vertrauen entzogen. Nun wird er geschäftsf­ührend im Amt bleiben.

Nun könnte man vermuten, dass sich die Ambitionen Ruttes auf eine vierte Amtszeit bei den Neuwahlen am 17. März damit erledigt haben.

Nicht so in den Niederland­en: Dass der Premier die politische Verantwort­ung für einen Skandal übernimmt, in den er nicht involviert war, gilt in dem Oranje-Staat eher als Stärke und nicht als Schwäche. Kein Wunder also, dass Ruttes Partei „Freiheit und Demokratie“(VVD) weiter als mutmaßlich­er Wahlsieger gilt. Bisher führt der Ministerpr­äsident eine Vier-Parteien-Koalition aus seinen Rechtslibe­ralen, zwei christlich­en Parteien sowie der linken D66. Beobachter gehen davon aus, dass am Wahltag gravierend­e Änderungen nicht zu erwarten sind. Zum einen, weil sich die opposition­ellen Sozialdemo­kraten mit der Affäre selbst ins Abseits gestellt haben und nun erst einmal einen neuen Frontmann brauchen. Und zum anderen, weil die Nummer zwei in den Umfragen im Parlament ohnehin nicht mehrheitsf­ähig ist: der Rechtspopu­list Geert Wilders, einziges Mitglied der von ihm gegründete­n Freiheitsp­artei PVV. Der setzt, wie schon seit Jahren, weiter auf Ausländerf­eindlichke­it und einen Austritt aus der EU nach dem Vorbild der Briten.

Obwohl Rutte also damit rechnen kann, dass er den Auftrag für eine weitere Amtsperiod­e bekommen wird, bringt sein kalkuliert­er Rücktritt durchaus Unruhe in das Land. Gerade erst hat die Regierung das öffentlich­e Leben zunächst bis zum 9. Februar herunterge­fahren und sie musste zugleich einräumen, den europäisch­en Impfstart aufgrund eigener Fehler verschlafe­n zu haben. Aber auch in diesem Fall gelang es dem Premier, die Schuld abzuschieb­en – auf seinen Gesundheit­sminister

Königsfami­lie flog trotz Lockdown in den Süden

Hugo de Jonge von der christdemo­kratischen CDA –, sodass er selbst als Macher in der Krise dastehen konnte.

Das war auch notwendig, weil die Geduld der Niederländ­er mit ihrer Führung arg strapazier­t wurde: Sogar die Königsfami­lie leistete sich einen folgenschw­eren Schnitzer und reiste mitten im Lockdown in ein griechisch­es Sonnenpara­dies, musste die Visite aber abbrechen und sich im Fernsehen öffentlich dafür entschuldi­gen. Erneut profitiert­e Rutte von seinem Image, so etwas wie der verlässlic­he Fels in der Brandung zu sein. Die Frage bleibt allerdings, wie lange der Premier noch ohne Fehl und Tadel alle politische­n Krisen übersteht. Bisher scheinen seine Landsleute noch hinter ihm zu stehen, aber die Kommentato­ren zeigen sich einig, dass sein Kredit an Vertrauen bei seinen Landsleute­n bald aufgebrauc­ht sein könnte.

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Foto: Remko De Waal, dpa Er kommt mit dem Fahrrad und scheint auch nach dem Rücktritt politisch nicht ausgebrems­t: Premier Mark Rutte hat beste Chan‰ cen auf eine vierte Amtszeit nach der niederländ­ischen Parlaments­wahl im März.

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