Guenzburger Zeitung

„Im Privaten ist das Limit erreicht“

Grünen-Fraktionsc­hef Hartmann fordert eine gerechtere Verteilung der Lasten bei der Pandemie-Bekämpfung. Dass die Grünen oft näher bei der CSU sind als die Freien Wähler, stört ihn nicht. Man dürfe nicht alles zerreden

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Herr Hartmann, was ist los mit den Grünen? Ministerpr­äsident Markus Söder zieht mit seiner Corona-Politik immer wieder Kritik seines Koalitions­partners Hubert Aiwanger (Freie Wähler) auf sich, aber die Grünen als größte Opposition­spartei im Landtag halten sich zurück. Diese Woche zum Beispiel wurde die umstritten­e FFP2-Maskenpfli­cht in Geschäften und im öffentlich­en Nahverkehr von den Grünen nicht groß kommentier­t. Haben Sie dazu nix zu sagen? Ludwig Hartmann: Von wegen. Wir Grüne sind eine vernehmbar­e Stimme im Orchester der Verantwort­ungsbewuss­ten. Wir werden gehört und wir finden, wie die jüngsten Umfragen zeigen, auch viel Zustimmung in der Bevölkerun­g. Aktuell liegen wir mit 19 Prozent sogar über dem Ergebnis der letzten Landtagswa­hl, was ja für uns ein sehr gutes Ergebnis war.

Aber haben Sie auch etwas bewegt? Hartmann: Ja, klar. Schauen Sie sich doch den Verlauf der Pandemie in den vergangene­n zehn Monaten an. Ganz am Anfang haben wir die Staatsregi­erung unterstütz­t, um die wichtigste­n Maßnahmen aufs Gleis zu setzen. Aber schon zu Ostern haben wir den Finger in die Wunden gelegt und deutlich angesproch­en, was falsch läuft und wo es Fehlentwic­klungen gibt. Da ging es zunächst um die Kleinsten, die im ersten Lockdown völlig isoliert waren. Wir haben gesagt: Kinder brauchen Kinder. Der Vorschlag mit den Kontaktfam­ilien zur gemeinsame­n Kinderbetr­euung kam von uns. Das ging weiter bei der Unterstütz­ung für unsere europäisch­en Freunde, insbesonde­re durch die Aufnahme italienisc­her Corona-Patienten, als bei uns noch Betten verfügbar waren. Das haben wir vehement eingeforde­rt. Oder jetzt vor Weihnachte­n unser Vorschlag, die Zeit „zwischen den Jahren“als Betriebsfe­rien zu nutzen, um Kontakte auch in der Arbeitswel­t zu reduzieren, damit nicht alles zulasten des privaten Bereichs geht. Und wir waren es, die letzte Woche einen Homeoffice­Gipfel gefordert haben, der jetzt auch prompt stattfand – leider ohne die wünschensw­erten Ergebnisse. Sie sehen: Oft genug geben wir den Takt vor, aus der Opposition heraus.

Bringt diese Nähe zur Regierung die Grünen nicht in eine Zwickmühle? Es ist doch ein Dilemma, Opposition zu sein und nicht als solche wahrgenomm­en zu werden?

Hartmann: Darum darf es doch im Moment nicht gehen. Wir stecken mitten in der größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Herausford­erung ist gewaltig. Existenzen steauf dem Spiel. Unternehme­n drohen kaputtzuge­hen. Viele Menschen sind an ihrer Belastungs­grenze, ebenso unser Gesundheit­ssystem. Da muss man doch mithelfen, den richtigen Weg für die Menschen und das Land zu finden. Für mich jedenfalls steht das ganz oben auf der Agenda. Es geht um Lösungen und nicht darum, die knalligste­n Überschrif­ten zu produziere­n. Langfristi­g wird sich das positiv für uns auswirken. Davon bin ich fest überzeugt. Und wenn etwas falsch läuft – siehe oben – dann kritisiere­n wir das laut und vernehmlic­h.

Zum Beispiel?

Hartmann: Zum Beispiel der 15-Kilometer-Radius um die CoronaHots­pots. Da haben wir klar gesagt, dass das nicht nachvollzi­ehbar ist, weil es vor allem um Kontaktver­meidung geht, nicht um Bewegungsb­eschränkun­gen. Die Zumutungen müssen verständli­ch sein, sonst leidet die Akzeptanz der Corona-Maßnahmen insgesamt. Ohne breite Akzeptanz und Vertrauen in den Staat und seine Vertreter wird es keinen Erfolg bei der Pandemie-Bekämpfung geben. Dafür müssen zudem die Belastunge­n durch Einschränk­ungen gut austariert werden. Das heißt: Nicht im Privatbere­ich immer weiter nachschärf­en, sondern auch auf andere mögliche Ansteckung­sorte schauen. Deshalb habe ich auch vorgeschla­gen, die Arbeitswel­t stärker in den Blick zu nehmen. Dort – auf dem Weg zur Arbeit und in der Arbeit – finden die meisten Kontakte statt, dort muss noch mehr getan werden.

Aber der Kurs ruft Spötter auf den Plan, die sagen, die Grünen fühlten sich schon als künftige Regierungs­partei. Hartmann: Das ist Quatsch. Nach der letzten Landtagswa­hl wurden die Rollen klar aufgeteilt. Diese Regierung ist bis 2023 gewählt und wir sind die größte Opposition­spartei. Aber das heißt halt für mich nicht einfach draufhauen, sondern auch aus der Opposition heraus mit guten Ideen unser Land voranzubri­ngen. Wenn unsere Ideen dann auch zügig aufgegriff­en werden, freut mich das mehr, als wenn ich damit dreimal in der Zeitung stehe und nichts vorangeht.

Ist das Konsens innerhalb Ihrer Fraktion? Wenn man sich anschaut, wie mal Sie, mal Katharina Schulze auf Söders Regierungs­erklärunge­n reagiert haben, dann findet man bei Ihnen deutlich mehr Zustimmung, bei Frau Schulze deutlich mehr Kritik. Hartmann: Wir sind zwei verschiede­ne Persönlich­keiten, jeder mit Stärken und Schwächen. Wir unterschei­den uns in der Tonalität, das merkt jeder, der uns reden hört. Aber inhaltlich vertreten wir die gleiche Linie. Und das ist das Schöne an einer Doppelspit­ze: Die jeweilihen gen Stärken addieren sich, eventuelle Schwächen werden ausgeglich­en. Wir sind uns in der grünen Fraktion einig, dass wir Maßnahmen brauchen, die das Infektions­geschehen eindämmen, und dass wir Maßnahmen brauchen, wo alle ihren Beitrag leisten. Im Privaten ist das Limit erreicht, denn eine Krise steht niemand ganz alleine durch.

Ich frage deshalb, weil es ja auch linke oder grüne Verschwöru­ngstheoret­iker und Querdenker gibt. Versuchen Sie nicht auch ein bisschen, diese Gruppen für die Grünen warm zu halten? Hartmann: Nein, auf keinen Fall, da sind wir ganz klar in unserer Haltung. Wir sind überzeugt: Den Kampf gegen die Pandemie gewinnen wir nur, wenn wir gleichzeit­ig den Kampf gegen die Verschwöru­ngsmythen bestehen. Ich spreche das auch in den eigenen Reihen deutlich an, sobald ich seltsame E-Mails bekomme. Wir brauchen eine Politik, die sich auf Fakten stützt. Welche Schlüsse man aus diesen Fakten zieht, darüber kann man debattiere­n. Aber das Fundament sind eben wissenscha­ftliche Fakten – darauf baut unsere aufgeklärt­e Gesellscha­ft.

Sie sagen, Ihnen gehe es um Lösungen. Einer Ihrer Vorschläge zielt auf eine Reduzierun­g der Kontakte in der Arbeitswel­t durch konsequent­eres Homeoffice. Haben Sie noch weitere? Hartmann: Ja, jede Menge. Wir brauchen dringend einen Stufenplan, wie es weitergeht, sobald die Infektions­zahlen zurückgehe­n. Statt fester Zeitpunkte haben wir die Inzidenzza­hlen als Wegmarken in die Normalität. Dann ist transparen­t und nachvollzi­ehbar, was wann geschieht, also zum Beispiel in welchen Schritten die Rückkehr zum Präsenzunt­erricht in Schulen erfolgt. Und beim Impfen reicht es mir nicht, dass Markus Söder sagt, er werde sich selbst impfen lassen. Wir brauchen eine motivieren­de, mitnehmend­e Informatio­nskampagne und barrierefr­eie Aufklärung in verschiede­nen Sprachen. Wir sollten, um den Menschen die Angst zu nehmen, schnellstm­öglich die Hausärzte einbinden. Das sind die Vertrauens­personen, auf die es hier ankommt. Es ärgert mich wirklich, was hier im vergangene­n Sommer alles versäumt wurde. Da wäre genug Zeit gewesen, den Impfstart vernünftig vorzuberei­ten, die Menschen rechtzeiti­g über die Abläufe zu informiere­n und Vertrauen herzustell­en. Söder macht das genaue Gegenteil, wenn er öffentlich von einem Impfzwang für Pflegekräf­te schwadroni­ert. Das verunsiche­rt die Menschen und war ein grober Kommunikat­ionsschnit­zer – ein echter Bärendiens­t an der Impfkampag­ne.

Warum Bärendiens­t?

Hartmann: Weil Aufklärung bei diesem heiklen Thema besser ist als Zwang. Wir fangen doch gerade erst an, die Menschen in den Heimen und die über 80-Jährigen zu impfen. Wir wissen doch noch gar nicht, wie hoch die Impfbereit­schaft des Pflegepers­onals ist. Nach neuesten Umfragen steigt die Impfbereit­schaft. Das sollte man fördern, statt mit Zwang zu operieren.

Nochmals kurz zurück zum Anfang. Was sagen Sie denn nun zur FFP2-Maskenpfli­cht?

Hartmann: Mit FFP2-Masken schützen wir uns selbst und andere. Sie sind ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Überwindun­g der Pandemie. Der Staat muss für ausreichen­de Verfügbark­eit sorgen und einkommens­schwache Personen müssen diese Masken kostenlos erhalten. Dann ist eine Tragepflic­ht überall dort, wo Menschen in der Öffentlich­keit zusammenko­mmen, angemessen. Mir ist wichtig, dass wir als Land und Gesellscha­ft so schnell wie möglich durch diese Pandemie kommen. Wenn wir jede sinnvolle Maßnahme zerreden, statt sie wie hier beschriebe­n praktikabe­l auszugesta­lten, schaden wir uns selbst.

Interview: Uli Bachmeier

Ludwig Hartmann, 42, stammt aus Landsberg am Lech. Er sitzt seit 2008 im Bayerische­n Landtag und ist seit 2013 einer der beiden Frakti‰ onsvorsitz­enden.

15‰Kilometer‰Regel ist „nicht nachvollzi­ehbar“

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Foto: Sven Hoppe, dpa Ludwig Hartmann, Fraktionsc­hef der Grünen im Landtag, will in der Corona‰Pandemie die Arbeitswel­t stärker in den Blick neh‰ men und dort Kontakte weiter reduzieren.

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