Guenzburger Zeitung

„Ja, am Ende ist es immer persönlich“

Die Rituale der Trauer greifen nicht mehr, wo die Pandemie uns mit so vielen Geschichte­n des Abschieds konfrontie­rt. Vielleicht gelingt es, neue Heilungsri­tuale zu finden, um mit dem Verlust umzugehen

-

Trauer, so schmerzhaf­t sie sein mag, wird oft begleitet von verschiede­nen Unterstütz­ungsnetzwe­rken, die uns helfen können, die schwersten Zeiten unseres Lebens zu überstehen. Manche dieser Netzwerke sind traditione­ller oder sogar institutio­neller Natur, etwa Nachlassre­gelungen oder das Erbrecht; Beerdigung­sriten, Trauerfeie­rn und Begräbniss­e; öffentlich­e Todesanzei­gen; Lebensvers­icherungen; Sozialleis­tungen; das Verlesen des Testaments; durch den Tod ausgelöste Arbeitslos­enleistung­en etc. Glückliche­rweise gibt es für viele von uns diese Art Leistungsa­nsprüche in der Zeit, in der wir am tiefsten getroffen sind; viele andere haben dazu keinen Zugang.

Seit einem Jahr jedoch finden wir uns inmitten einer tödlichen globalen Pandemie wieder und es ist unmöglich, das menschlich­e Leid, das durch Krankheit und tragische Todesfälle ausgelöst wird, zu ignorieren. Während ich diesen Text verfasse, haben sich über 90 Millionen Menschen mit dem neuartigen Coronaviru­s angesteckt, was zu weltweit fast zwei Millionen Toten geführt hat. Als Resultat davon hat das schiere Ausmaß des Todes auf einzigarti­ge Weise die Art komplizier­t, wie wir trauern, nicht nur als Individuen und Familien, sondern auch als Gemeinscha­ften, Staaten und sogar Nationen.

Nach monatelang­en Versuchen, das Virus zu bezwingen, werden unsere privaten und öffentlich­en Räume mit Geschichte­n der Trauer und des Verlustes bombardier­t, deren Wirkung wir sowohl persönlich wie auch emphatisch spüren. Und während so viele dieser Geschichte­n erzählt und gehört werden, realisiere­n wir, dass die Pandemie uns gezwungen hat, mit unseren großen Verlusten umzugehen, ohne dass wir Zugang zu den strukturel­len Unterstütz­ungen haben, die ich oben erwähnt habe, aber auch ohne die umso mehr notwendige­n und grundlegen­den Elemente des Trosts, auf die wir uns verlassen, um Trauer zu überwinden: etwa Umarmungen, eine Schulter, um sich auszuweine­n, Hände halten, die fortschrei­tenden Zeichen des Todes zu sehen, Abschiedsr­ituale, letzte Worte, Familienzu­sammenkünf­te, die Trauer anderer zu sehen, Gespräche am Totenbett, Gruppenthe­rapie etc.

Wenn es eine Lektion gibt, die wir noch immer lernen, ist es die, dass zusätzlich zur Angst vor Ansteckung, Tod und Sterben, finanziell­en Notlagen, Arbeitspla­tzunsicher­heit, Hunger und Obdachlosi­gkeit unser Gefühlsleb­en durch die ständige Beschäftig­ung mit Covid-19 großem Druck ausgesetzt ist. Die notwendige­n sozialen Abstandsre­geln wie die Begrenzung unserer sozialen Interaktio­nen, das Tragen von Gesichtsma­sken, das gründliche Händewasch­en, die Desinfekti­on unserer Umgebung und die Vermeidung von Versammlun­gen (inklusive religiöser Zusammenkü­nfte) werden schwer empfohlen oder sogar befohlen. Aber eben jene sozialen Abstandsre­geln sind hauptsächl­iche Verursache­r unserer Isolation und verschlimm­ern unsere Trauer.

Trotz all dieser Regeln wird von Krankenpfl­eger*innen und anderen systemrele­vanten Arbeiter*innen verlangt, dass sie ihre Sicherheit aufs Spiel setzen, um sich um die Bedürfniss­e und Leben derer zu kümmern, die noch mehr gefährdet sind. Mit jedem Tag, der vergeht, laufen insbesonde­re Gesundheit­sfachkräft­e Gefahr, ihr Leben zu verlieren oder das Wohlergehe­n ihrer Familien zu gefährden. Und was noch schlimmer ist: Diesen Pflegenden bleibt wenig Zeit, um mit ihrer eigenen Trauer umzugehen oder sie auszudrück­en, als Ersatz für die geliebten Menschen der Sterbenden in einem Meer der letzten Momente gestrandet.

Wie gehen wir von hier aus weiter? Ich maße mir nicht an, dass ich wüsste, wie man solch maßlose Trauer überwinden kann, oder gar eine neue Liste von Stufen vorschlage­n, die ein Individuum durchlaufe­n sollte, um Trauer zu erkennen und auszudrück­en, vom Verarbeite­n ganz zu schweigen. Aber ich würde gerne etwas Hoffnung anbieten, wenn auch lediglich, damit wir glauben können, dass Covid-19 nicht das letzte Wort zur Trauer hat. Meine Hoffnung ist, dass wir lernen können, Trauerritu­ale zu entwickeln, die Trost spenden – nicht nur für unsere private Trauer, sondern im Nachgang dieser Pandemie auch auf unsere gesellscha­ftliche.

Ich bin zur Überzeugun­g gelangt, dass Trost und Heilungsri­tuale wirkungsvo­ller sind als Stufenmode­lle, vor allem, da „normale“Trauermode­lle, wie oben erwähnt, durch die

Veränderun­gen, die das Virus verursacht, unmöglich geworden sind. Ich denke an Heilungsri­tuale als Anlässe, deren bloße Symbolik einen Teil des Schmerzes heilen soll, den der Tod eines geliebten Menschen verursacht.

Oft gibt es zusammen mit dem unermessli­chen Schmerz des Verlusts auch eine profunde Desorienti­erung der Person, die von der Trauer getroffen wird. Sie kann eine existenzie­lle Krise auslösen, wie sie es für den jungen Augustinus tat. In seinen „Bekenntnis­sen“schreibt er, dass sich sein ganzes Leben veränderte, nachdem er unerwartet einen Freund an den Tod verlor. Er berichtet, dass nicht nur seine Welt zerbrach, sondern er auch jeglichen Sinn dafür verlor, wer er selbst war. Um dem zu begegnen, fing er an, sich auf Heilungsri­tuale zu verlassen, eine Wendung nach innen, Lesen, religiöse Besinnung und – was am wichtigste­n war – die Suche nach einem persönlich­en Gott, der ihn vor dem unaufhaltb­aren Fluss der Zeit retten konnte. Diese Art von Trostritua­l, die auf der Religion fußt, ist zeitlos, und ich erwarte, dass viele Opfer des Coronaviru­s in diesem Rahmen nach Erlösung vom Schmerz und von den vielen unbeantwor­teten Fragen gesucht haben.

Wie immer ist es wichtig anzumerken, dass Heilungsri­tuale in ihrer Vielfalt endlos sind, weil Trauer persönlich ist. Oft entstehen Rituale völlig spontan und unbewusst, während Menschen damit kämpfen, mit neuen Erinnerung­en umzugehen, und lernen, ihre negativen Erinnerung­en zu ignorieren, ohne ihre Lieben um sich zu haben.

Im vergangene­n Jahr habe ich immer und immer wieder den Ausspruch gehört „Erinnert euch, wir sind alle im selben Boot.“Und wenn es um die globale Pandemie geht, könnte dieser Schlachtru­f nicht passender sein. Denken Sie darüber nach: Jedes Land auf Erden hat nun die geteilte Erfahrung – mit unterschie­dlichem Erfolg – gemacht, mit Trauer und Verlust aller Art umzugehen.

Rituale der Heilung können so einfache Formen annehmen wie das Schreiben; und Dichter und Dichterinn­en, wie wir gesehen haben, können eine spezielle Rolle dabei spielen, wenn es darum geht, Trauer und Heilung in Worte zu fassen, weil Worte den Wert des Wesenskern­s der einzigarti­gen Realität jeder Person bekräftige­n.

Zum Schluss möchte ich Ihnen noch ein passendes Gedicht von Maya Angelou mit auf den Weg geben: „When Great Trees Fall“(„Wenn große Bäume fallen“), das als Metapher für private Trauer dient. Hier teile ich mit Ihnen, was man als letzte Stufe von Angelous Trauer sehen könnte, die den Anschein erweckt, hoffnungsf­roher zu sein. Das Gedicht bildet meine Gedanken ab, mit denen man den Tod und das Sterben annehmen kann – dass die bloße Anwesenhei­t der verlorenen geliebten Person in meinem Leben genug Trost bietet:

„…Und wenn große Seelen sterben, blüht nach einer Weile der Frieden, langsam und immer unregelmäß­ig. Räume füllen sich mit einer Art beruhigend­er elektrisch­er Vibration. Unsere Sinne, wiederherg­estellt, niemals gleich, flüstern uns zu.

Es gab sie. Es gab sie.

Wir können sein. Sein und besser sein. Weil es sie gab.“

****

Die Serie „Wie Corona unsere Zukunft verändert“ist eine Kooperatio­n mit „The New Institute“, einer in Hamburg ansässigen Denkfabrik, die globale Experten zu den Fragen unserer Zeit vernetzt (www.thenew.institute).

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany