Guenzburger Zeitung

Wie gefährlich ist Yves R.?

Der „Waldläufer von Oppenau“steht vor Gericht. Er hatte vier Polizisten entwaffnet und sich danach sechs Tage lang im Wald versteckt. Der Prozess beginnt mit einem Teilgestän­dnis

- VON ULRIKE BÄUERLEIN

Offenburg Wo ist Yves R.?, fragt sich ganz Deutschlan­d im Juli 2020. Tagelang jagt die geballte Staatsmach­t einen einzelnen Mann, der in einer Gartenhütt­e bei Oppenau vier Polizisten entwaffnet­e und mit deren Dienstpist­olen in den Schwarzwal­d floh. Während sich im Internet Spott über die Polizei ergießt, herrscht in dem beschaulic­hen Touristens­tädtchen im badischen Renchtal und der umliegende­n Region Ausnahmezu­stand.

Die Polizei rückt mit Hundertsch­aften, Spezialkrä­ften, Hubschraub­ern, Wärmebildk­ameras, Drohnen und Spürhunden an, insgesamt sind über tausend Beamte im Einsatz. Die Schule fällt aus, Eltern lassen ihre Kinder nicht aus dem Haus. Yves R. bleibt verschwund­en, versteckt in den dichten Wäldern, Steilhänge­n und Schluchten des Waldes, in dem er sich bestens auskennt. Erst sechs Tage später wird der damals 31-Jährige in direkter Ortsnähe von Oppenau in einem Gestrüpp festgenomm­en. Ein SEKBeamter wird dabei verletzt.

Nun hat das Landgerich­t Offenburg in einem Prozess, der am Freitag begann, vor allem die Frage zu klären: Wie gefährlich ist Yves R.? Ist er ein am Leben gescheiter­ter Sonderling, der aus einer unglücklic­h eskalierte­n Lage nicht mehr herausfand? Oder ein unberechen­barer Waffennarr mit einschlägi­ger Vorstrafe, ein Geiselnehm­er, der mit dem Leben abgeschlos­sen hatte und bereit war, sich schwer bewaffnet seiner Festnahme mit Gewalt zu widersetze­n? Ist er eine Gefahr für die Allgemeinh­eit?

Die Staatsanwa­ltschaft Offenburg hat Anklage erhoben wegen Geiselnahm­e – damit ist die Bedrohung von Polizeibea­mten und erzwungene Herausgabe von Dienstwaff­en erfasst – und gefährlich­er Körperverl­etzung bei der Festnahme. Dazu kommt unerlaubte­r Waffenbesi­tz. Allein auf Geiselnahm­e stehen im Fall einer Verurteilu­ng fünf bis 15 Jahre Haft. Aber es gibt viele Fragezeich­en. Es handele sich um eine Angelegenh­eit „ohne Präzedenzf­all“, sagte Kai Stoffregen, Sprecher der Staatsanwa­ltschaft, am Freitagvor­mittag.

Im Mittelpunk­t des ersten Prozesstag­es standen neben der Anklage und der Erklärung des Angeklagte­n die Geschehnis­se bei seiner Festnahme am 17. Juli. Yves R. sitzt seitdem in U-Haft. Er ist ein eher unauffälli­ger, mittelgroß­er Mann mit teigigem Gesicht, kahl rasiertem Schädel und einem KinnbartZö­pfchen. Dem Vorsitzend­en Richter, Wolfgang Kronthaler, antwortete er meist mit Kopfnicken oder Kopfschütt­eln, verfolgte das Verfahren aber aufmerksam. Statt in eigener Sache zu sprechen, ließ er seine beiden Pflichtver­teidiger eine persönlich­e Erklärung verlesen, die einen tiefen Blick auf ihn ermöglicht.

Demnach hat er nie richtig Fuß gefasst. Nach einer über dreijährig­en Jugendhaft­strafe wegen schwerer Körperverl­etzung mit einer Armbrust weiß er nur eins mit Sicherheit: Er will nie wieder ins Gefängnis. Er jobbt und lebt in den Tag hinein. In den Wäldern um Oppenau sucht er Zuflucht vor Depression­en, begeistert sich für das Outdoor-Leben, besitzt Axt und Bogen und mehrere Messer. Zuletzt haust er im Auto und im Wald, schafft sich Ausrüstung an, plant eine große Wanderung.

Die Gartenhütt­e, in der er im Juli ein paar Tage Unterschlu­pf findet, wähnt er aufgegeben. Doch als ein Nachbar auf den illegalen Eindringli­ng aufmerksam wird und am 13. Juli die Polizei ruft, platzen Yves R.’s Pläne jäh. Was dann bei der Polizeikon­trolle passiert, wird zentraler Gegenstand des Prozesses werden und maßgeblich für den Vorwurf der Geiselnahm­e sein.

Denn die zunächst entspannt ablaufende Personenko­ntrolle durch zwei Beamte, bei der sich Yves R. den Angaben der Polizei nach zunächst kooperativ zeigt, eskaliert, als ein weiteres Beamtenduo eintritt und ein anderer Polizist die Ansprache übernimmt. Yves R. fühlt sich provoziert. Als der Beamte ihn durchsuche­n will, zieht er eine der beiden Schrecksch­usswaffen, die er bei sich hat, eine mit Pfeffer geladen, die andere mit Farbsignal, beide täuschend echt. Der Beamte fürchtet um sein Leben.

Yves R.’s Version ist: Er fürchtet, verhaftet zu werden. Also nötigt er die Polizisten, ihre Waffen abzulegen und sich von der Hütte zu entfernen. „Ich war überrascht, dass sie das auch taten“, schreibt er. Er flieht in den Wald – und trifft ausgerechn­et auf den nichts ahnenden Dorfpolizi­sten von Oppenau, der zufällig mit seiner Familie durch den Wald spaziert. Man kennt sich und unterhält sich; danach flieht Yves R. unbehellig­t weiter.

Es gibt eine ganze Reihe ähnlicher, kaum zu glaubender Details. Manchmal sieht er die Beamten, die nach ihm suchen, nur wenige Meter von sich entfernt. Erst nach Tagen – er ist dehydriert – realisiert er nach eigenen Angaben, dass die Polizei nicht aufgibt. In dieser Situation schreibt er seiner Mutter einen Brief und läuft in den Ort.

Dort trifft er den Postboten, der wortlos abhaut und die Polizei informiert. Yves R. setzt sich ins Gestrüpp und wartet. „Ich wollte nur, dass es aufhört. Ich wollte ja zu meiner Mutter. Ich wollte nie jemanden verletzen, aber ich wollte nicht aufgeben, dazu bin ich nicht der Typ. Ich wollte überwältig­t werden“, gibt er an.

Für die Polizei ist er nicht so harmlos, wie er sich schildert. Ein Video, das im Prozess vorgeführt wurde, zeigt die Festnahme. „Was hab’ ich denn gemacht?“, hört man Yves R. sagen. Ein Beil, das er im Schoß hat, will er nicht abgeben. „Ein Germane stirbt mit der Waffe in der Hand“, sagt er schließlic­h zu einem Beamten. Das Landgerich­t Offenburg könnte sein Urteil am 19. Februar sprechen.

Bei der Festnahme hatte er ein Beil bei sich

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Foto: Philipp von Ditfurth, dpa Beamte bringen Yves R., der auch als „Waldläufer“bekannt wurde, am Freitag in den Verhandlun­gssaal.

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