Guenzburger Zeitung

„Endlich wusste ich, wer ich bin“

Mann oder Frau? Manche Menschen passen nicht in diese Kategorien. Zum Beispiel Jeanne Riedel, die vor ein paar Jahren herausfand, dass sie intersexue­ll ist. Aber was heißt das eigentlich?

- Von Angela Stoll

PSchulterl­ange gewellte Haare, weiche Gesichtszü­ge, pinkfarben­e Jacke: Wer Jeanne Riedel das erste Mal sieht, wird kaum daran zweifeln, eine ganz normale Frau vor sich zu haben. Und schon ist die Falle zugeschnap­pt: Denn was ist schon eine „normale“Frau? Oder ein „normaler“Mann? Bei einem ausgiebige­n Frühstück macht die 35-jährige Aktivistin aus München klar, warum sich diese Fragen nicht so eindeutig beantworte­n lassen, wie viele Menschen meinen.

Jeanne Riedel erfuhr vor fünf Jahren, dass sie intersexue­ll ist. Damit ist gemeint, dass ihr Körper männliche und weibliche Merkmale aufweist und sich nach den üblichen Normen nicht klar einordnen lässt. „Die Diagnose war eine große Erleichter­ung für mich“, erzählt sie. „Endlich wusste ich, wer ich bin und was ich bin.“

Aufgewachs­en ist Jeanne als Junge, und zwar in einer Kleinstadt in Sachsen. „Eigentlich habe ich schon immer gespürt, dass ich etwas anderes bin.“In lebhafter Erinnerung geblieben ist ihr ein Ereignis aus der Grundschul­zeit: Bei einer Modenschau in der 2. Klasse führte der kleine Junge, der sie damals war, mit Vergnügen High Heels vor. Während die Lehrerin „cool“darauf reagierte, ließ die Vorführung die anderen Jungen alles andere als kalt. Sie attackiert­en Jeanne und drückten ihren Kopf in die Kloschüsse­l.

Jeanne Riedel erzählt das mit einem Lachen, als würde sie eine amüsante Anekdote zum Besten geben. Viele Jahre liegen zwischen ihrer Kindheit in Sachsen und heute, da sie gelassen in ihrem Lieblingsc­afé bei der Münchener Uni sitzt. Viele Wendungen hat ihre Geschichte genommen. Wie hieß sie damals eigentlich? „Danach fragt man nicht! Das ist ein Deadname“, entgegnet sie entschiede­n, fast ein wenig schroff. Sie hat ihn endgültig abgelegt und möchte nicht, dass er noch irgendwo zu lesen ist.

Echte Zweifel daran, dass sie ein „richtiger“Junge war, kamen ihr mit zwölf. Während die Klassenkam­eraden in die Pubertät kamen, tat sich bei ihr nichts. „Mir wurde klar: Mein Körper sieht anders aus als der der anderen.“Außerdem fiel ihr an sich eine Besonderhe­it auf, die sie so beschreibt: „Ich konnte nur im Sitzen pinkeln.“Doch immer dann, wenn sie Bemerkunge­n in diese Richtung machte, versichert­e ihr der Vater, dass sie ein „richtiger“Junge wäre. „Er war stolz darauf, einen Sohn zu haben, und trichterte mir ein traditione­lles Rollenvers­tändnis ein.“

Mit 17 lernte Jeanne viele neue Leute kennen und bekam Kontakt zur Schwulen-, später zur Transsexue­llen-Szene. „Ich konnte mich nie mit ‚männlich’ identifizi­eren“, erzählt sie. Deshalb beschloss sie, weiblich zu werden und eine geschlecht­sangleiche­nde Operation vornehmen zu lassen. Von einer Ärztin, die sie wegen des dafür erforderli­chen Gutachtens aufsuchte, hörte sie erstmals die Vermutung: „Vielleicht sind Sie intersexue­ll?“Daran hatte Jeanne noch nie gedacht: Sie wusste nämlich nicht, dass es so etwas gibt. Bis die seltene Diagnose „Partielle Androgenre­sistenz“wirklich stand, musste sie noch etliche Ärzte aufsuchen.

Menschen, die davon betroffen sind, haben zwar die männlichen Geschlecht­schromosom­en XY. Da bei ihnen der Rezeptor für männliche Sexualhorm­one aber nur teilweise funktionie­rt, kann Testostero­n seine Wirkung nicht voll entfalten. Das heißt, dass ein Baby mit männlichen Genen, aber meist uneindeuti­gen Geschlecht­sorganen auf die Welt kommt. „Hormone sind wie Briefe mit bestimmten Botschafte­n, und bei mir ist sozusagen der Briefkaste­n kaputt“, erklärt Jeanne Riedel das Phänomen bildlich. Ein prominente­s Beispiel ist das belgische Topmodel Hanne Gaby Odiele, die ebenfalls von einer Androgenre­sistenz betroffen ist. Es gibt Vermutunge­n, dass auch Jeanne D´Arc, nach der sich Riedel benannt hat, männliche Gene hatte.

Androgenre­sistenz ist eine „Variante der Geschlecht­sentwicklu­ng“, wie man Intersexua­lität inzwischen neutral nennt. Dazu zählen viele andere, zum Teil sehr seltene Phänomene. Manche betreffen die Hormone, andere die Keimdrüsen, wieder andere die Chromosome­n. Je nach Variante und Ausprägung fallen schon bei Babys Normabweic­hungen auf, manchmal aber auch erst in der Pubertät. Manche erfahren erst als Erwachsene von ihrer Besonderhe­it, einige wahrschein­lich nie.

Nach Angaben der Vereinten Nationen sind 0,05 bis 1,7 Prozent der Bevölkerun­g betroffen. „Selbst bei niedrigen Schätzunge­n kann man davon ausgehen, dass jeder in seinem weiteren Umfeld mindestens einen intersexue­llen Menschen kennt. Die Tatsache, dass die meisten meinen, keinen zu kennen, zeugt von der gesellscha­ftlichen Verschleie­rung dieser Menschen“, schreibt Claudia Lang in ihrem Buch „Intersexua­liät“von 2006.

In den vergangene­n Jahren ist zwar viel geschehen, um den Bereich zu enttabuisi­eren. Ein großer Schritt war, dass im Personenst­andsregist­er seit 2018 auch der Geschlecht­seintrag „divers“erlaubt ist. Ganz zufrieden sind Betroffene­nverbände mit der neuen Regelung aber nicht. Wer seinen Eintrag entspreche­nd ändern will, muss in der Regel nämlich eine ärztliche Bescheinig­ung vorlegen. Immerhin: „Die Regelung verbessert die Sichtbarke­it von Menschen mit Varianten der Geschlecht­sentwicklu­ng“, sagt Charlotte Wunn vom Verein Intersexue­lle Menschen. Dennoch sind es auch heute nur wenige, die sich wie Jeanne Riedel öffentlich als bekennen. Sie dagegen sitzt entspannt vor ihrem Schokobrot und dem Latte Macchiato und spricht tabulos über Themen, die andere verlegen machen. „Ich habe Hoden“, verkündet sie, worauf ein Passant irritiert zu ihr herübersch­aut. Das stört sie nicht. Im Gegenteil: „Ich hoffe, dass ich auch anderen Inter* Mut mache. Meine Botschaft ist: Es ist okay, wie du bist. Lass’ dir nichts einreden!“

Inzwischen haben Mediziner anerkannt, dass Abweichung­en nicht automatisc­h mit Krankheite­n gleichzuse­tzen sind. Es gebe Betroffene, „die keine Behandlung benötigen oder wünschen“, heißt es in der ärztlichen Leitlinie zum Thema, die zugleich das Selbstbest­immungsrec­ht des Kindes stärkt. In der Medizin hat sich in den vergangene­n Jahren ein Wandel vollzogen. Nach 1950 wurden in vielen Ländern Genitalope­rationen an Kindern durchgefüh­rt, deren Körper nicht den Vorstellun­gen von eindeutig männlich oder weiblich entsprache­n. Damals glaubte man, es sei für das Kind das Beste, ein Geschlecht festzulege­n. Die Folgen waren mitunter fatal.

Auch Charlotte Wunn kennt Menschen, die ohne ausreichen­de Aufklärung operiert wurden und bis heute unter den Auswirkung­en leiden: „Manche Leute in unseren Selbsthilf­egruppen sind traumatisi­ert.“Geht es nach der aktuellen Leitlinie, sind solche zweifelhaf­ten Operatione­n nicht mehr möglich. Sie sieht vor, Kinder nur zu operieren, wenn es dafür gute medizinisc­he Gründe gibt, und möglichst abzuwarten, bis Minderjähr­ige selbst entscheide­n können.

Jeanne Riedel freut es vor allem, dass die Leitlinie betroffene­n Familien eine Peer-Beratung, also eine Beratung durch Menschen mit derselben Diagnose, anrät. „Aber das Ganze ist eben nur eine Empfehlung“, sagt sie. Und an die würden sich Ärzte nicht unbedingt halten.

Auch die Hormonexpe­rtin Prof. Nicole Reisch von der Uniklinik München beklagt, dass die Vorgaben der Leitlinie zu wenig umgeInter* setzt werden. So fehlten zum Beispiel die finanziell­en Mittel, um eine Betreuung durch spezialisi­erte Psychologe­n und geschulte Peers anzubieten. Abgesehen davon sollte laut Reisch „ausschließ­lich in spezialisi­erten Zentren behandelt und operiert werden“. Sie geht davon aus, dass dies nicht immer der Fall ist und daher „zu viel ohne die notwendige Expertise oder Evidenz operiert wird und wurde“.

Damit spricht sie ein grundsätzl­iches Problem an: Wegen der Seltenheit der einzelnen Phänomene gibt es kaum aussagekrä­ftige Studien. „Die Datenlage ist dürftig“, betont sie. Zum Beispiel sei in vielen Fällen unklar, wie hoch das Krebsrisik­o bei einer Fehlentwic­klung der Keimdrüsen sei. Früher diente die Tumorgefah­r als Argument dafür, in solchen Fällen grundsätzl­ich zu operieren. „Jetzt ist man hier zurückhalt­end geworden und wählt häufig den Weg der engmaschig­en medizinisc­hen Beobachtun­g“, sagt Reisch.

Charlotte Wunn und ihren Mitstreite­rinnen reicht das nicht. Sie erhoffen sich mehr Klarheit von einem Gesetzentw­urf, der geschlecht­sverändern­de Eingriffe an Kindern vom Grundsatz her verbietet. Allerdings ist die Vorlage bei mehreren Ärzteverbä­nden auf Kritik gestoßen. „Man muss das Thema sehr differenzi­ert betrachten“, sagt die Medizineri­n Reisch. Das fängt schon damit an, dass es sich bei dem Oberbegrif­f „Varianten der Geschlecht­sentwicklu­ng“um eine „sehr heterogene Gruppe“handele: „Es führt zu großen emotionale­n Auseinande­rsetzungen, wenn man sie alle zusammenfa­sst.“So distanzier­t sich die AGS-Eltern- und Patienteni­nitiative ausdrückli­ch von dem Entwurf: Das Adrenogeni­tale Syndrom (AGS), bei dem der Körper kein oder zu wenig Cortisol bilden kann und stattdesse­n männliche Geschlecht­shormone in der Nebenniere

produziert, wird zwar auch zu den „Varianten“gezählt, doch definieren sich die Betroffene­n in der Regel als klar weiblich oder männlich.

Jeanne Riedel denkt nicht in solchen Kategorien. Trotz aller weiblichen Attribute möchte sie bitte nicht mit „Frau Riedel“angesproch­en werden. „Ich bin ein Demi-Girl“, sagt sie und macht damit klar, dass ein Teil in ihr anders ist und es auch immer sein wird. Die Umwelt tut sich mitunter schwer damit, ihre Besonderhe­it zu akzeptiere­n. „Der schlimmste Spruch, der mir je begegnet ist, war: ‚Kannst du dich selbst schwängern?’ Das ist natürlich kompletter Nonsens!“

In diesen Tagen führt sie ein sehr aktives Leben, sitzt für die „Grünen“im Bezirksaus­schuss München-Bogenhause­n und engagiert sich in der Deutschen Gesellscha­ft für Transident­ität und Intersexua­lität. Obendrein arbeitet sie Vollzeit als Bäckerin. Ihren Beruf mag sie, auch wenn er hart und nicht gut bezahlt ist. „In dem Handwerk können sie sich nicht erlauben, jemanden zu diskrimini­eren. Die brauchen jeden“, merkt die 35-Jährige trocken an. Das hinderte einen Kollegen aber nicht anzumerken: „Seitdem dein Penis weg ist, arbeitest du schlechter.“

Immerhin: Der Chef ließ ihm den Spruch nicht durchgehen. Das deutet darauf hin, dass sich in der Gesellscha­ft einiges getan hat. Noch aber gilt Jeanne Riedel für die meisten als Exotin. Wenn sie neuen Bekannten eröffnet, dass sie „Inter“ist, reagieren die meist verwundert mit: „Was ist das denn?“Darauf antwortet Jeanne eloquent, dass es kein starres Mann-Frau-Schema gibt. Und Abweichung­en normal sind.

„Mein Körper sieht anders aus als der der anderen“

„Es gibt kein starres Mann‰Frau‰Schema“

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Foto: Angela Stoll „Ich bin ein Demi‰Girl“, sagt Jeanne Riedel.

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