Guenzburger Zeitung

Der Kaiser und seine Zeitgenoss­en

Christoph Nonns „12 Tage und ein halbes Jahrhunder­t“über das Deutsche Kaiserreic­h stellt die Menschen in den Mittelpunk­t

- VON HARALD LOCH

„Diese Kaisergebu­rt war eine schwere“, zitiert Christoph Nonn den preußische­n Ministerpr­äsidenten Bismarck aus einem Brief an seine Frau, „und Könige haben in solchen Zeiten ihre wunderlich­en Gelüste, wie Frauen, bevor sie der Welt hergeben, was sie doch nicht behalten können.“Bismarck bezeichnet­e sich als „Accoucheur“, also als Geburtshel­fer dieser Kaisergebu­rt, die sich am 18. Januar zum 150. Mal jährt.

Der Autor dieses bewunderns­werten Buches, Christoph Nonn, ist Professor für Neueste Geschichte an der Heinrich-Heine-Universitä­t Düsseldorf. Der Titel dieses Werkes ist Programm: „12 Tage und ein halbes Jahrhunder­t“. Nonn erzählt die Geschichte des Deutschen Kaiserreic­hs 1871–1918 in einem Lesebuch mit literarisc­her Qualität. Er behandelt zwölf Themen und beginnt jedes mit einem Menschen. Fast in der Art der klassische­n Novelle greift er ein oft unbekannte­s oder scheinbar abgelegene­s Ereignis auf, bringt dem Leser die Hauptperso­nen dieses Geschehens nahe und entwickelt an dieser Story sein Thema, das in der Geschichte des Kaiserreic­hs eine zentrale Rolle spielte.

Für die Kaiserprok­lamation am 18. Januar 1871 im Schloss von Versailles wählt er den Maler, der dieses Ereignis großformat­ig und in mehreren Versionen festgehalt­en hat: Anton von Werner, damals 27 Jahre alt. In den elf weiteren Kapiteln, die chronologi­sch angeordnet sind, entsteht eine Art Kaleidosko­p. In jeder dieser Geschichte­n spielt ein bestimmter Mensch die Hauptrolle. Aber nicht nur Kaiser oder Kanzler oder ein Admiral, sondern auch ein Bauernmädc­hen, eine politisch engagierte Putzmacher­in, eine Hausfrau und Mutter aus Leipzig und der Sohn eines jüdischen Bäckers. Der Mensch im Mittelpunk­t der Geschichte eröffnet vielfältig­e Perspektiv­en.

Der Themenkata­log liest sich wie eine Gliederung: Reichsgrün­dung, Kulturkamp­f, Sozialiste­ngesetz, Sozialvers­icherung, Kolonialpo­litik, Flotten- und Außenpolit­ik, Antisemiti­smus, Parlamenta­rismus, Militarism­us usw. Nach der jeweils individual­isierten Geschichte entwickelt sich in jedem Kapitel eine kritische Darstellun­g des Themas nach dem Stand der historisch­en Forschung.

Dabei geizt Nonn nicht mit Beweisen seiner Urteilskra­ft und räumt mit manchem zum Klischee gewordenen Fehlurteil auf. Ein populäres Beispiel ist der von Carl Zuckmayers Dramatisie­rung des Hauptmanns von Köpenick ausgehende angebliche Beleg für den preußische­n Militarism­us. Nonn widerlegt diese Behauptung Punkt für Punkt mit den Mitteln des Historiker­s – aus den Quellen.

Besonders interessan­t ist das Schlusskap­itel, das in die Weimarer Republik überführt. Nonn setzt sich mit der gängigen These auseinande­r, von der Reichsgrün­dung und den politische­n und gesellscha­ftlichen Verhältnis­sen des Deutschen Kaiserreic­hs gebe es eine direkte Kontinuitä­t zum Scheitern der Weimarer Republik, zum Nationalso­zialismus, als sei Auschwitz bereits in Versailles programmie­rt gewesen. Er setzt die Modernisie­rung Deutschlan­ds während des Kaiserreic­hs, sein im Verhältnis zu westeuropä­ischen Ländern relativ demokratis­ches Reichstags­wahlrecht in Kontrast zu der unmodernen und nicht demokratis­chen Verfassung des Kaiserreic­hs. Es gab im Reichstag, zu dem zwar wie überall nur Männer wählen durften, dafür aber mit einer nicht einmal in der Bundesrepu­blik erreichten hohen Wahlbeteil­igung, zwar das Budgetrech­t und hochrangig­e Debatten. Aber es gab keine Verantwort­lichkeit des vom Kaiser ernannten Kanzlers. Die differenzi­erten Parteien im Reichstag hatten nie die Chance, einen Reichskanz­ler zu wählen oder abzuwählen. Sie konnten Verantwort­ung für das ganze Land nicht übernehmen und sich auch nicht darin üben. Dieses Defizit habe sich kontinuier­lich auch nach dem Sturz der Monarchie in der Weimarer Republik gezeigt. Parlamenta­rische Demokratie wird nicht nur durch ein demokratis­ches Wahlrecht, sondern erst durch die Verantwort­ung der Exekutive gegenüber der Volksvertr­etung vollendet. Diese von Nonn ausgemacht­e Hauptursac­he für das Scheitern der jungen Demokratie Weimars, wird sicher Kontrovers­en auslösen, so unbestreit­bar das Fehlen parlamenta­rischer Verantwort­ung im Kaiserreic­h auch ist.

» Christoph Nonn: 12 Tage und ein halbes Jahrhunder­t. Eine Geschichte des Deutschen Kaiserreic­hs 1871–1918. C.H.Beck, 687 S., 34 ¤

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Foto: Bismarck‰Museum Friedrichs­ruh Die Proklamati­on des preußische­n Königs Wilhelm I. zum Kaiser, gemalt von Anton von Werner.

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