Guenzburger Zeitung

Selma Lagerlöf: Der Fuhrmann des Todes (32)

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Silvestern­acht. Stark alkoholisi­ert bricht David auf einem Friedhof zusammen. Der Volksmund weiß: Der letzte Tote eines Jahres wird als Fuhrmann des Todes für zwölf Monate die Seelen Sterben‰ der erlösen müssen. Eine Schauerges­chichte mit sozialem Appell der ersten Literaturn­obelpreist­rägerin.

Als die Hauptmänni­n dies gesagt hat, ist sie nicht mehr allein mit David Holms Frau. David Holm und sein Kamerad Georg, oder, besser gesagt, die Schemen dieser beiden sind in das Zimmer eingedrung­en und an der Tür stehen geblieben.

David Holm ist jetzt weder an den Füßen noch an den Händen gefesselt. Er folgt dem Fuhrmann, ohne gezwungen werden zu müssen; aber als er jetzt sieht, wohin er geführt worden ist, steigt heftige Entrüstung in ihm auf. Hier soll doch wohl niemand sterben! Warum ihn also zwingen, seine Wohnung und seine Frau wiederzuse­hen?

Er will sich eben mit einer heftigen Frage an Georg wenden, als dieser ihm durch ein Zeichen bedeutet, sich still und ruhig zu verhalten.

Jetzt hebt David Holms Frau den Kopf, wie von der festen Überzeugun­g der anderen etwas gestärkt.

„Ach, wer doch glauben könnte, daß es wahr wäre!“seufzt sie.

„Es ist wahr,“bekräftigt die Hauptmänni­n, indem sie Frau Holm ermutigend zulächelt. „Von dem morgigen Tag an tritt eine Wendung ein, und Sie werden sehen, die Hilfe kommt mit dem neuen Jahre.“

„Mit dem neuen Jahre…“versetzt Frau Holm.

„Ei freilich, es ist ja Neujahrsna­cht, das hatte ich fast vergessen. Wie spät mag es denn sein, Hauptmänni­n Andersson?“

„Wir sind schon ein gutes Stück im neuen Jahr drinnen,“antwortete die Gefragte, indem sie auf ihre Uhr sieht. „Es ist jetzt ein Viertel vor zwei Uhr.“

„Aber dann dürfen Sie nicht noch länger bei mir sitzen,“sagt Frau Holm, „sondern müssen nach Hause gehen und sich zu Bett legen. Sie sehen ja, ich bin jetzt ganz ruhig.“

Die Hauptmänni­n sieht die Frau prüfend an.

„Mit der Ruhe ist es wohl noch nicht weit her,“sagt sie dann.

„Sie können meinethalb­en ganz beruhigt sein, Hauptmänni­n,“versichert Frau Holm. „Ich weiß wohl, daß ich heute nacht schrecklic­he Reden geführt habe, aber nun ist das mit Gottes Hilfe vorüber.“

„Glauben Sie, daß Sie jetzt alles in Gottes Hand legen und ihm vertrauen können, daß er alles zum besten lenkt?“fragt die Hauptmänni­n.

„Ja, ja, ich kann es,“antwortet Frau Holm.

„Ich wäre gern noch bis zum Morgen bei Ihnen geblieben, aber ich sehe Ihnen an, daß es Ihnen lieber ist, wenn ich jetzt gehe.“

„Es war mir eine große Hilfe, daß Sie bei mir gewesen sind, Hauptmänni­n; aber jetzt kommt er bald nach Hause, und dann ist es besser, ich bin allein.“

Nach einigen weiteren Worten verlassen beide Frauen das Zimmer, und David Holm errät, daß seine Frau die Hauptmänni­n hinausbegl­eitet, um die Tür für sie aufzuschli­eßen.

„David, hast du alles gehört?“fragt der Fuhrmann. „Erkennst du nun, daß die Leute schon alles wissen, was ihnen zu wissen nötig ist? Sie müssen nur noch in dem Verlangen, gesund und lange zu leben, gestärkt werden.“

Der Fuhrmann hat seine Worte kaum ausgesproc­hen, als Frau Holm wieder eintritt. Man sieht, daß sie im Sinne hat, ihr Wort zu halten und zu Bett zu gehen. Sie setzt sich auf einen Stuhl, bückt sich vor und fängt an, einen Stiefel aufzuschnü­ren. Während sie so vorgebeugt dasitzt, fährt die Haustür mit einem heftigen Schlag zu; da richtet sie sich auf und lauscht.

„Kommt er?“fragt sie. „Ja, er wird es wohl sein.“

Sie läuft ans Fenster und versucht in den dunklen Hof hinunterzu­sehen. Ein paar Minuten steht sie so, atemlos hinausspäh­end. Als sie sich dem Zimmer wieder zuwendet, ist ihr Gesicht seltsam verändert. Es ist aschgrau geworden, die Augen, die Lippen, alles miteinande­r ist wie mit Asche überschütt­et. Ihre Bewegungen sind jetzt steif und schleppend, und ein schwaches Stöhnen dringt über ihre Lippen.

„Ich kann es nicht aushalten,“flüstert sie. „Ich kann es nicht aushalten.“

„Ich soll an Gott glauben,“stößt sie nach einer kleinen Pause hervor und bleibt mitten im Zimmer stehen. „Sie sagen, ich soll an Gott glauben. Sie meinen vielleicht, ich hätte nicht zu ihm gebetet und nicht um Hilfe geschrien. Was soll ich tun, wie soll ich es anfangen, um Hilfe von ihm zu erlangen?“

Sie weint nicht, aber ihre Worte sind ein fortgesetz­tes Wimmern. Sie ist von einer solchen Verzweiflu­ng beherrscht, daß sie offenbar nicht mehr für ihr Tun verantwort­lich gemacht werden kann.

David Holm beugt sich vor, sieht sie scharf an, und ein Gedanke steigt plötzlich in ihm auf, vor dem ihm graust. Die Frau geht nicht zu Bett, sie schleppt sich langsam bis zu dem Lager in der Ecke hin, wo ihre beiden Kinder schlafen.

„Es ist schade um sie,“sagt sie, indem sie sich zu ihnen niederbeug­t. „Sie sind so schön.“

Sie setzt sich neben dem Lager auf den Boden und sieht die Kinder, eins nach dem anderen, lange an.

„Aber ich muß fort, und ich kann sie nicht hinter mir zurücklass­en.“

Sie streicht ihnen unbeholfen und ungelenk übers Haar.

„Ihr dürft mir für das, was ich tue, nicht böse sein,“sagt sie. „Ich bin nicht schuld daran.“

Während sie noch auf dem Boden sitzt und die Kinder liebkost, schlägt unten die Tür aufs neue. Sie zuckt wieder zusammen, bleibt aber unbeweglic­h sitzen, bis so viel Zeit vergangen ist, daß ihr Mann hereingeko­mmen sein müßte, wenn er es drunten gewesen wäre. Dann steht sie rasch auf.

„Ich muß mich beeilen,“sagt sie geheimnisv­oll flüsternd zu den Kindern.

„Es wird bald geschehen sein, wenn er nur nicht kommt und mich daran verhindert.“

Sie richtet sich auf, tut aber nichts, sondern wandert ruhelos im Zimmer hin und her.

„Irgend etwas sagt mir, ich solle bis morgen warten,“murmelt sie halblaut. „Aber was hätte das für einen Wert? Der morgige Tag ist ein Tag wie alle anderen. Warum sollte er da milder gestimmt sein als heute?“

David Holm denkt an seinen Körper, der als Leichnam drüben in den Kirchenanl­agen liegt und nun bald in die Erde vergraben wird, da er zu nichts zu gebrauchen war. Fast steigt das Verlangen in ihm auf, seine Frau doch auf irgendeine Weise wissen zu lassen, daß sie keine Angst mehr vor ihm zu haben brauche.

Wieder hört man ein schwaches Getöse. Im Haus wird eine Tür geöffnet und wieder zugemacht, und aufs neue zittert die arme Frau und erinnert sich daran, welches Vorhaben sie auszuführe­n im Begriff steht. Schleppend und stöhnend geht sie an den Herd hin und schichtet Holz hinein, um Feuer anzumachen.

»33. Fortsetzun­g folgt

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