Guenzburger Zeitung

Darum ist der Corona-Frust bei Schülern und Eltern so groß

Leitartike­l Schulen bleiben länger zu, zumindest für die meisten Kinder in den meisten Bundesländ­ern. Die Begründung dafür basiert auf einem Prinzip und ist umstritten

- VON CHRISTIAN GRIMM chg@augsburger‰allgemeine.de

Vorsorge ist besser als Nachsorge. In dieser einfachen Redewendun­g liegt die ganze Corona-Philosophi­e von Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Deutschlan­d klemmt bis Mitte Februar im festen Griff der Seuchenpol­itik, Schulen und Kindergärt­en sollen geschlosse­n bleiben. Millionen Kinder und Eltern im ganzen Land sind nicht überzeugt, dass das Vorsorgepr­inzip der Weisheit letzter Schluss ist. Sie stützen sich auf drei starke Argumente: Erstens ist es wissenscha­ftlich umstritten, ob es in Schulen und Kindergärt­en zu vielen Ansteckung­en kommt. Es gibt Studien, die gelangen zu diesem Schluss, andere wollen das Gegenteil belegen. Das heißt, es gibt keine belastbare­n Erkenntnis­se dazu, oder deutlicher gesagt: Es ist nicht bewiesen, dass Kitas und Schulen Treiber der Pandemie sind.

Bleiben ihre Türen länger zu, bedeutet das – zweitens – Wochen mit enormer körperlich­er und seelischer Belastung für Familien mit Kindern. Eltern sind schon jetzt am Limit, sind genervt und frustriert darüber, ihren Beruf und den Job als Ersatzlehr­er irgendwie zu vereinbare­n. Drittens werden viele Kinder in diesem Schuljahr viel weniger lernen als in normalen Jahren. Der Unterricht aus der Distanz ist eine Krücke, die die soziale Spaltung weiter vertieft. Das deutsche Bildungssy­stem war schon davor ungerecht, weil der schulische Erfolg der Kinder von Bildungsgr­ad und Einkommen der Eltern abhängt. Die ohnehin Abgehängte­n verlieren nun völlig den Anschluss. Das gilt zum Beispiel besonders auch für Kinder, die mit ihren Eltern nach Deutschlan­d geflüchtet sind und die zu Hause kein Deutsch sprechen.

Gegen diese gewichtige­n Argumente stehen eine Befürchtun­g und die Mahnung zur Vorsicht. Die Kanzlerin ahnt das Schlimmste, sollte die England-Mutation auch Deutschlan­d durchseuch­en. Der Blick in das Vereinigte Königreich muss einen mit großer Sorge erfüllen. Die Lage ist katastroph­al. In einigen Krankenhäu­sern geht es derart dramatisch zu, als befände sich das Land im Krieg wegen all der Corona-Patienten, die behandelt werden müssen. Zehntausen­de stecken sich jeden Tag mit dem Erreger an. Die überforder­te Regierung hat den dritten Lockdown verhängt. Er kam vor allem auf Druck der Schulen, Eltern und Wissenscha­ftler zustande. Premiermin­ister Boris Johnson schloss die Grundschul­en in England, nachdem die Kinder für einen Tag in die Klassenzim­mer zurückgeke­hrt waren. Einen Tag. Deutschlan­d steht heute etwa dort, wo sich Großbritan­nien im November befunden hat. Seinerzeit wurde der zweite Lockdown verhängt mit dem Unterschie­d, dass die Schulen offen blieben. Zwar konnte dadurch das Virus eingedämmt werden, aber nicht so stark, als dass der Ausbruch der mutierten Erreger beherrschb­ar war. Genau das ist die Angst der Kanzlerin. Sie will verhindern, dass sie der dritten Welle hinterherr­egieren muss, weil die Einschränk­ungen zu rasch gelockert wurden. Genau das ist ihre Erfahrung seit dem Herbst. Merkel und die Ministerpr­äsidenten kamen immer zu spät.

Die Heimsuchun­g Großbritan­niens durch die mutierte Seuche zeigt, dass es richtig ist, jetzt vorsichtig zu sein. Dass Eltern gefrustet sind, Kinder ihre Freunde vermissen und die Familien durch eine schwere Zeit gehen, ist völlig verständli­ch. Dass einige Länder wie Baden-Württember­g die Grundschul­en schrittwei­se öffnen wollen, ist angesichts der erwähnten drei Argumente nachvollzi­ehbar. Sie gehen damit aber ins Risiko und unterminie­ren die Geschlosse­nheit. Denn wenn überall etwas anderes gilt, verlieren die Regeln an Überzeugun­gskraft. Es sind außerdem die Länder, die sich fragen lassen müssen, warum der Digitalunt­erricht häufig schlecht ist.

Die Politik will nicht länger hinterherr­egieren

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