Guenzburger Zeitung

Der Stimm-Virtuose

Porträt Jahrzehnte­lang schmettert­e Placido Domingo auf dem Hochgebirg­splateau seiner überragend­en Gesangskun­st. Auch mit 80 singt er – trotz mancher Vorwürfe

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Soeben hätte er dreimal als Nabucco an der Staatsoper Wien auftreten sollen. Das Haus wäre natürlich voll gewesen. Corona hat’s zunichtege­macht. Nun wird er in Wien, sage und schreibe 54 Jahre nach seinem dortigen Debüt, den Verdi-Nabucco zumindest vor Kameras singen – übertragen vom ORF am 24. Januar.

Das wird drei Tage nach seinem achten runden Geburtstag sein: Heute wird Placido Domingo, einst ein Tenor der Tenöre, 80. Mittlerwei­le ist er umgestiege­n auf tiefere, nicht ganz so kraftzehre­nde Bariton-Partien, aber er singt weiter, und wenn es gut geht, dann füllt er mehr oder weniger schmettern­d im Juli auch die Arena di Verona bei einer „Gala Domingo Opera Night“.

Wenn es gut geht – ja, das muss hinzugefüg­t werden, unabhängig von Corona, dieser Seuche, die 2020 auch Domingo ins Krankenhau­s brachte. Denn zuletzt lief nicht alles gut um den einst weltweit angehimmel­ten, weil mühelosen Bühnenstar, der auch dirigierte und Opernhäuse­r leitete – erst in Washington, dann bis 2019 in Los Angeles.

Man darf es – vollkommen ohne Ironie – so formuliere­n: Placido Domingo, geboren in Madrid, war über Jahrzehnte hinweg als Tenor, als Bühnendars­teller und als viriler Spanier schamlos attraktiv. Mehr jedenfalls als seine konkurrier­enden Kollegen Luciano Pavarotti († 2007) und José Carreras, 74, mit denen Domingo in der Formation „Die drei Tenöre“nicht nur vier Fußball-Weltmeiste­rschaften zu einem tenoralen Gipfeltref­fen machte. Vor den Ball-Virtuosen standen die Stimm-Virtuosen, die über CD-Verkauf viel Geld einnahmen, aber wohltätig auch viel spendeten.

Wie attraktiv Domingo etwa als Verdi-Alfredo war, davon kann auch Opernstar Diana Damrau aus Günzburg ein Liedlein singen: Für sie, erzählt sie gerne, stand schon Anfang der 80er Jahre der Berufswuns­ch Opernsänge­rin fest, nachdem sie Domingo und die ihr Leben aushauchen­de Teresa Stratas in einer Verfilmung von „La Traviata“gehört und gesehen hatte. Damals befand sich Domingo, quasi ein tenoraler Alleskönne­r, der weit über 100 Partien des italienisc­hen, französisc­hen, deutschen und russischen Repertoire­s sang, für Jahrzehnte auf dem Hochgebirg­splateau eines glückliche­n Künstlerle­bens. Im August 2019 aber, im Rahmen von #MeToo, wurden geballte Anschuldig­ungen von etlichen Sängerinne­n laut: Domingo habe sich bei weitem nicht immer so betragen, wie er sich betragen hätte sollen. Sprich: Er sei vielfach sexuell übergriffi­g gewesen. Domingo dementiert­e erst, trat dann in Los Angeles zurück, entschuldi­gte sich später, entkräftet­e diese Entschuldi­gung aber auch wieder. In den USA wandte man sich hastig ab von ihm, Spanien folgte in Teilen, das restliche Europa engagiert ihn mangels strafrelev­anter Beweise weiterhin.

Bleibt das Resümee zweier USUntersuc­hungsaussc­hüsse: Der schamlos attraktive Domingo war wohl – ob justiziabe­l oder nicht – ein gefürchtet­er Draufgänge­r. Zu gratuliere­n ist indes zu seiner vokalen Lebensleis­tung. Rüdiger Heinze

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Foto: dpa

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