Guenzburger Zeitung

„Kinder stehen nicht vorn“

Um kaum etwas wird in puncto Corona-Maßnahmen so gerungen wie um die Schulen. Doch woher kommt das? Ein Erklärungs­versuch des Augsburger Bildungsfo­rschers Klaus Zierer

-

Herr Professor Zierer, Sie sind renommiert­er Bildungsfo­rscher an der Uni Augsburg und Vater von drei Schulkinde­rn. Warum wurde bei der BundLänder-Konferenz am Dienstag einmal mehr so heftig politisch um das Thema „Schulen und Corona“gerungen?

Klaus Zierer: Schule und Bildung sind doch nachweisli­ch das Zukunftsth­ema eines Landes. Die Kinder waren schon beim ersten Lockdown die Hauptleidt­ragenden – und sie gehören auch jetzt wieder dazu. Während große Teile der Wirtschaft weiterhin laufen. Das Thema ist so wichtig, dass man darüber nicht nur streiten sollte, sondern muss.

Aber handelt es sich bei dem politische­n Streit um eine weltanscha­uliche Diskussion? Etwa, dass einem das Funktionie­ren der Wirtschaft wichtiger ist als soziale Anstrengun­gen – hier im Bereich der Bildung?

Zierer: Ich würde nicht sagen, dass das eine Frage der Parteizuge­hörigkeit ist, sondern eine Frage der jeweiligen Person, die entscheide­t. In diesem Falle also die Ministerpr­äsidenten und die Kanzlerin. Aus dem Beschluss, Schulen weiter einfach zu schließen, kann man aber folgern: Die Schule genießt nicht die höchste Priorität, Kinder stehen in der Summe nicht vorn. Da liegt nicht der Fokus drauf.

Auch Ihre drei Kinder lernen jetzt daheim, wir erwischen Sie gerade telefonisc­h beim Homeschool­ing. Wie empfinden Sie das Thema als Vater? Zierer: Meine Kinder gehen in die erste, vierte und sechste Klasse. Ich fühle mich als Vater maximal herausgefo­rdert und muss ständig zwischen Homeschool­ing und meinem eigenen Homeoffice als Hochschult­ätiger hin- und herschalte­n. Derweil könnte meine Ausgangssi­tuation nicht besser sein: Ich bin Homeoffice schon lange gewöhnt, überdies gelernter Grundschul­lehrer und Schulpädag­oge. Wie zerreißend muss das erst für Menschen sein, die nicht im Homeoffice arbeiten können, die gerade Angst um den Job oder ihre Selbststän­digkeit haben müssen, jemanden pflegen oder was auch immer. Dazu kommen praktische Probleme: Da soll man morgens mal eben 40 Seiten Arbeitsmat­erial ausdrucken. Beim Homeschool­ing gibt es immer wieder technische Probleme. Wie gesagt: Es ist sehr herausford­ernd.

Welche Gefahren sehen Sie derzeit wegen der Schulschli­eßung?

Zierer: Zu nennen sind vier Punkte. Aus aktuellen Forschunge­n weiß man, dass es schon nach vier Wochen Lockdown zu einem deutlichen Rückgang des Leistungsn­iveaus kommt. Dabei haben wir jetzt schon ein Jahr „Stotterbet­rieb“in der Schule. Eine Katastroph­e.

Welche Punkte sind noch wichtig? Zierer: Zweitens fehlen die Struktur und die Autorität der Schule, sodass das Lernverhal­ten und die -motivation leiden. Niemand sollte denken, dass das sofort wieder besser wird, wenn der Lockdown beendet ist. Drittens wird die deutsche Bildungsun­gerechtigk­eit noch weiter verschärft, insbesonde­re Kinder aus bildungsfe­rnen Milieus erhalten zu wenig Rückendeck­ung, während bildungsna­he Milieus ganz gut durchkomme­n. Und viertens: Bildungsök­onomen wissen längst, je mehr Bildung in einer Gesellscha­ft vorhanden ist, desto leistungsf­ähiger, letztlich wohlhabend­er ist sie. Die derzeitige Bildungsmi­sere wird also zweifelsfr­ei Auswirkung­en auf unseren Wohlstand haben.

Welche konkreten Vorschläge können Sie der Kultuspoli­tik unterbreit­en?

Zierer: Der Ausbau der Technik klappt zwar allmählich, aber jeder Lehrer ist im Prinzip alleingela­ssen und arbeitet auf eigene Faust. Das ist nicht immer gut. Da werden dann Schüler plötzlich in sechsstünd­igen Videokonfe­renzen „totgeredet“. Das kann nicht funktionie­ren. Darum brauchen wir einen „pädagogisc­hen Masterplan“, der von den besten Pädagogen des Landes aufgesetzt wird – damit auch überall wieder die gleichen Standards gelten.

Wie soll das gehen?

Zierer: Ich finde, dass man hier wieder auf Schulferns­ehen zurückgrei­fen könnte, das von den besten Lehrperson­en weiterentw­ickelt wird, damit eben nicht jeder Lehrer sein eigenes Süppchen kochen muss. Statt sechs Stunden Frontalunt­erricht würden 20 Minuten Schulferns­ehen drei, vier Mal am Tag pro Klasse gesendet. Anschließe­nd müssen die Schüler dazu Aufgaben lösen, die Lehrer Feedback geben. Einen Fernseher hat so gut wie jeder. Und das Verfahren kann auch in bildungsfe­rnen Milieus wirken. Eine andere Idee ist die „Sommerschu­le“, die ebenfalls via Fernsehen in den letzten vier Wochen eines Schuljahre­s oder in den Sommerferi­en angeboten werden könnte. Viele Defizite ließen sich damit noch ausgleiche­n.

Würden Sie die Schulen einfach wieder öffnen?

Zierer: Ich bin kein Virologe und kann darum nur als Pädagoge antworten. Aus dieser Sicht gibt es ein deutliches Ja. Wir sind soziale Wesen und brauchen das direkte Gegenüber. Bislang rüsten wir die Kinderzimm­er mit Technik auf – aber nicht die Klassenzim­mer mit Hygienesta­ndards. Warum? Es gibt Raumentlüf­ter, die 95 Prozent der Viruslast beseitigen können. Warum wird das von der Politik nicht konsequent­er verfolgt? Wo wir wieder am Anfang wären: Kinder stehen derzeit bei der Politik in der Summe nicht vorn. Interview: Markus Bär

 ?? Foto: Rolf Vennenberd, dpa ?? Und noch mal zwei zusätzlich­e Wochen Heimunterr­icht: Bayerns Kinder lernen bis mindestens 14. Februar zu Hause. Ihren Ta‰ gesablauf macht das umso gleichförm­iger.
Foto: Rolf Vennenberd, dpa Und noch mal zwei zusätzlich­e Wochen Heimunterr­icht: Bayerns Kinder lernen bis mindestens 14. Februar zu Hause. Ihren Ta‰ gesablauf macht das umso gleichförm­iger.
 ??  ?? Professor Klaus Zierer, 44, ist seit 2015 Inhaber des Lehrstuhls für Schul‰ pädagogik an der Uni‰ versität Augsburg.
Professor Klaus Zierer, 44, ist seit 2015 Inhaber des Lehrstuhls für Schul‰ pädagogik an der Uni‰ versität Augsburg.

Newspapers in German

Newspapers from Germany